Öffentliche Toilette in Berlin anno 1876: Die Berliner nannten den Entwurf auf achteckigem Grundriss spöttelnd "Café Achteck".

Foto: Martin Prskawetz

Öffentliche Toilette in Berlin heute: Gesichtslos und austauschbar, wie Vittorio Magnago Lampugnani sie sich nicht vorstellt.

Foto: imago images/snapshot

Hat u. a. einen zweibändigen "Atlas zum Städtebau" über Straßen und Plätze verfasst: Vittorio Magnago Lampugnani, Architekturhistoriker und früher Städtebauprofessor an der ETH in Zürich.

Foto: Marvin Zilm

Heute, da jede Wohnung fließend Wasser hat und man handlich abgepacktes und hygienisch unbedenkliches Nass an jeder Ecke im Supermarkt kaufen kann, kann man sich nicht mehr vorstellen, was ein Brunnen einst für einen Platz oder eine Straße bedeutet hat. In Rom existierten Anfang des vierten Jahrhunderts 1300 öffentliche Trinkwasserbrunnen und dienten neben der Versorgung auch als soziale Treffpunkte. Für Jean-Jacques Rousseau stellte der Brunnen folglich einen Geburtsort von Gesellschaft dar. Heute bringen Brunnen vor allem noch Touristen für Selfies zusammen. Sie sind kaum noch überlebensnotwendig, doch Orte des Wohlbefindens.

Kleinigkeiten machen unseren Eindruck von Städten genauso aus wie große Bauten oder Straßen: Laternenmasten, U-Bahn-Abgänge, Bänke oder eben Brunnen geben einem Ort Charme, Charakter und im besten Fall Unverwechselbarkeit. Zig "Stadtraumdetails" und "Mikroarchitekturen" geht der Architekturhistoriker und ehemalige Städtebauprofessor an der Zürcher ETH Vittorio Magnago Lampugnani im Buch Bedeutsame Belanglosigkeiten nach. Seien sie kunstvoll oder zurückhaltend.

Er nennt sie so, denn diese Dinge sind einfach da, und oft bemerkt man sie nicht einmal und fragt auch nicht, woher sie warum kommen. Doch verschmelzen in ihnen technischer Entwicklungsstand, ästhetische Ansprüche und praktische Anforderungen einer Zeit. Ausladende Schaufenster sind etwa nicht nur Ergebnis von Fortschritten in der Herstellung großer Glasflächen, sondern auch Folge eines Wirtschaftssystems, das von gezielter Produktion auf Nachfrage zur Schaffung von beim Kunden bis zum Erblicken der Ware noch nicht vorhandenen Bedürfnissen umstellte. Solche Geschichten erzählt Lampugnani.

Sei nützlich und schön

Eine Stadt soll für ihn nicht nur funktionieren, sondern zudem ihren Charakter als Kulturprodukt zeigen. Kleine Elemente "dürfen die Gelegenheit nicht ungenutzt lassen, die Stadt, ihre Geschichte, ihren Charakter und ihre Kultur reicher zu machen". Mehr denn früher sei der öffentliche Raum nämlich "unter Attacke" von Kommerzinteressen und verwirrtem Geschmack. Sei es, weil der Individualitätsdrang der Bewohner womöglich überschießt oder weil möglichst billig gebaut werden soll. Mit Lampugnani spricht ein Verfechter der Ausgewogenheit von Nützlichkeit und Ästhetik.

Er geht dafür zurück zu den Anfängen der Stadt, wie wir sie heute kennen: Die Trennung von Arbeiten und Wohnen etwa bedingte ab dem Mittelalter mehr Bewegung in den Städten, das machte erst bessere Straßen (Lehm zu Holz zu Pflasterung zu Asphalt) und in der Folge nächtliche Beleuchtung notwendig. Straßenschilder auch, aus Blech erfand man sie in Paris 1728 allerdings nicht zwecks besserer Orientierung, sondern zur effizienteren Steuerkontrolle.

Lampugnani breitet solche Fakten und Anekdoten detailliert aus, folgt Entwicklungen, macht sie mit Abbildungen ersichtlich. So schreiben sich noch dem Kleinsten gesellschaftliche, ökonomische, technische Verhältnisse ein. Lampugnani will einen öffentlichen Raum im besten Sinn: zur Annehmlichkeit und Freude aller. (Michael Wurmitzer, 19.12.2019)