"Verkehr ist Leben" lautete die Regierungsparole der Nachkriegszeit in Tirol. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Region zu einer der wichtigsten Transitrouten zwischen Nord- und Südeuropa. Aus Angst vor einer Umfahrung Tirols durch die Schweiz und den damit verbundenen Verlust des Transitverkehrs kam es zu einem massiven Ausbau des alpenquerenden Straßennetzes.

"Tiroler Politiker lancierten Infrastrukturprojekte in großem Stil. Die Funktion als Transitland wurde dabei als Aufgabe – ja, fast schon als Mission – im Dienste Europas betrachtet. Insbesondere der Bau der Brennerautobahn in den 1960er- und 1970er-Jahren führte zu einer verbesserten Verkehrsverbindung zwischen den europäischen Zentren des Nordens mit denen des Südens. Die Brennerautobahn wurde dabei ideell überhöht, indem sie als Infrastruktur gefeiert wurde, im Dienste Europas Staatsgrenzen überwand und eine friedliche und wirtschaftlich prosperierende Zukunft versprach", so Maria Buck, die in ihrer Dissertation den Transitwiderstand und Alpenschutz in Tirol (1975-2005) und die damit verbundenen komplexen Aushandlungsprozesse in der Verkehrs- und Umweltpolitik im Kontext der Europäischen Integration untersucht.

Die rasante Entwicklung des Verkehrsnetzes nahm in den 1960er-Jahren mit dem Bau der Inntalautobahn Fahrt auf. Das eigentliche "Hauptbauwerk", die Sillbrücke, wurde vom damaligen Stadtrat in Europabrücke umbenannt. Dies war laut Buck ein klares politisches Zeichen, das jetzt für Europa, die neue prosperierende Friedensgemeinschaft gebaut wird. Das Bauwerk wurde 1963, ein Jahr vor der Austragung der olympischen Spiele in Innsbruck fertiggestellt.

Am Wendepunkt

In den 1970er-Jahren wandelte sich – wie in ganz Europa – auch in Tirol das Umweltbewusstsein. Unter den Anwohnern entlang der Hauptverkehrstraßen, der Inntal- und Brennerautobahn, formierte sich zusehends Widerstand gegen den LKW-Transit. Erste wissenschaftliche Studien zur Auswirkung des Verkehrs auf Gesundheit und Umwelt wurden durchgeführt und trugen zum Bewusstseinswandel bei. Wie heute der Klimawandel, war damals das Waldsterben das mediale Umweltthema schlechthin und sorgte zunächst in Deutschland und Frankreich, dann europaweit für Diskussionen.

"Da Schadstoffe aber eine längere Zeit brauchen, bis sie objektiv nachgewiesen werden können, wurde in Tirol damit begonnen, die Lärmbelastung zu messen. Lärm beeinträchtigt die Lebensqualität unmittelbar und direkt – das kennen wir alle, wenn wir nachts das Fenster öffnen und nicht schlafen können, weil es zu laut ist. Anwohner, die neben der Inntalautobahn lebten, standen also plötzlich auf der Terrasse und konnten ihre Nachbarn nicht mehr verstehen. An der Innsbrucker Universitätsklinik wurden damals unzählige Studien zu den Auswirkungen von Lärm auf die Gesundheit gemacht. Die Tiroler Landesregierung baute Lärmmessstationen und es gab auch schon EU-Richtwerte, die in Tirol permanent überschritten wurden", weiß die Wirtschafts- und Sozialhistorikerin.

Die Transitgegner sahen sich in den Ergebnissen der Studien bestätigt und proklamierten die Situation an der Transitstrecke als abschreckendes Zukunftsszenario für ganz Europa. Erst ein 1984 von der Landesforstdirektion verfasster Bericht über den Zustand der Wälder in Tirol belegte den schlechten Zustand der Wälder entlang der Inntal- und Brennerautobahn. Für die Forscherin steht fest: "Das war der politische Wendepunkt in Tirol, da klar war, wenn man Landtagswahlen gewinnen will, muss man die Thematik ernst nehmen."

Europabrücke.
Foto: APA/ZEITUNGSFOTO.AT

Proteste auf den Autobahnen

In ihrer Arbeit beschreibt Buck, wie durch die Umweltbewegung eine neue politische Kultur und Öffentlichkeit in Tirol entstanden ist: "Der Transitwiderstand hat in Tirol zum ersten Mal breite Bevölkerungsschichten und -gruppen vernetzt, die sich über einen Zeitraum von über 30 Jahren politisch engagierten. Es kam zur Gründung von Bürgerinitiativen, die sich zunächst vor allem gegen den Lärm zur Wehr setzten, später gegen die Abgasbelastung und die daraus resultierenden Gesundheits- und Umweltschäden protestierten. Die Bewegung war wirklich sehr heterogen und reichte von Arbeiter hin zu Lehrern, Anwälte, Ärzte und ging über Parteigrenzen hinweg. Auf politischer Ebene haben am Anfang natürlich die Grünen, die Anliegen unterstützt. Aber letztlich war es den Aktivisten wichtig, parteiunabhängig zu agieren. Die Anliegen wurden als politisch übergeordnetes Ziel angesehen."

Protestiert wurde auch auf den Autobahnen. Rechtlich nicht genehmigte Blockade- und Protestaktionen zu Beginn der Proteste schlugen hohe Wellen in den Medien. Schnell wurde aber klar, dass illegale Aktionen den großen konservativen Teil der Bevölkerung verschrecken: "Die Aktivisten wollten nicht einfach gegen etwas sein, sondern aktiv an Lösungen mitarbeiten. Also wurden Versammlungen und Diskussionen veranstaltet, Flugblätter verteilt, Briefe an Politiker geschickt, Erklärungen verfasst und in Zeitungen publiziert. Auch die behördliche Seite änderte bald ihren Umgang mit den Protesten, weil negative Bescheide zu Versammlungsaktionen direkt an die Presse weitergeleitete wurden und der Politik vorgeworfen wurde, die demokratischen Rechte der Bürger zu beschneiden."

Fest auf der Brennerautobahn währen der Blockade im Juni 2000.
Foto: APA/Bernhard Grossruck

Politik ändern

Die österreichische Umweltbewegung der 1970er- und 80er-Jahre konnte wegweisende Erfolge für sich verbuchen. Ziviler Ungehorsam wandte den Bau des Kraftwerks in der Hainburger Au ab. Eine auf massive Proteste folgende Volksabstimmung zum Kernkraftwerk Zwentendorf verhinderte dessen Inbetriebnahme. Auch wenn die Frage nach dem Erfolg der Protestbewegungen in Tirol für die Historikerin eine der schwierigsten ist, steht fest, dass diese Protestaktionen vor allem auf der Bewegungsebene eine Vorbildfunktion hatten:

 "Besonders die Abstimmung über Zwentendorf am 5. November 1978 und die Besetzung der Hainburger Auwälder 1984 dienten als Kristallisationspunkt für die Transitgegner, waren diese Ereignisse doch der Beweis dafür, dass Bürger in der Lage sind, ein Projekt zu verhindern, das von politischer Seite längst beschlossen war. In den Diskursen des Transitwiderstands werden diese beiden Beispiele immer wieder als Motivation herangezogen. Sie zeigten, dass es möglich ist, ein Umdenken herbeizuführen und die Politik zu ändern."

Resistente Meinungen

Die Berichterstattung aus diesen Jahren, die Buck in der Österreichischen Mediathek nachgehört und -gesehen hat, zeigt das sehr gut: "Anfang der 80er wird noch von 'dem Problem in Tirol' gesprochen. Doch mit der Zeit sensibilisierten die Protestaktionen immer mehr Menschen für die Auswirkungen des Transitverkehrs in ökologischer Hinsicht und bekommen auch Vorbildfunktion für andere Regionen – zum Beispiel beginnen die Salzburger an der Tauernautobahn zu protestieren. Als realpolitisch Konsequenz der Proteste in Tirol ist sicherlich das Nachtfahrverbot für Lkws ab 7,5 Tonnen auf der Inntal- und Brennerautobahn zu nennen. In Bezug auf den Brennerbasistunnel hingegen ist die Politik äußerst beratungsresistent. Die Diskussionen die man jetzt über den Bau führt, hatte man eigentlich schon in den 80er-Jahren! Die Kritiker meinten damals schon, das ist alles schön und gut, aber letzten Endes ist der Tunnel viel zu klein geplant. Der Transport auf der Schiene ist eine sozial- und umweltverträgliche Lösung für das Transitproblem, aber bis zur Fertigstellung wird er schon fast wieder obsolet sein. Es gibt X verkehrswissenschaftliche Studien dazu, aber die Politik, egal ob in den 80ern, 90ern oder heute scheint den wissenschaftlichen Fakten gegenüber resistent.“

Transitproblem und die EU

Für Bucks Forschungsprojekt sind vor allem die Aufnahmen des Ö1-Mittagsjournals in der Österreichischen Mediathek interessant. Sie ermöglichten einen guten Einstieg in die Thematik. Auch politische Talkshows wie "Club 2", oder die Sendungen "Argumente" und "Hohe Haus" zieht sie als Quellen für ihre Arbeit heran: "Die ORF-Sendungen sind ein gutes Barometer, um ein Gefühl dafür zu bekommen, inwieweit die Transitproblematik in Tirol auch österreichweit ein Thema war. Gerade hier wird auch die Verflechtung der Transitproblematik mit der Diskussion um einen möglichen EU-Beitritt deutlich."

Während der Diskussion um einen möglichen EU-Beitritt Österreichs und durch den Abschluss des Transitabkommens mit der EU im Jahr 1992 erhielt die Transit-Debatte eine neue Dynamik. Die EU war lange das Feindbild der alpinen Umweltschützer. Der freie Warenverkehr und Binnenmarkt machte Tirol zum "Auspuff Europas". Österreichs Beitritt zur EU 1995 führte zu einer Liberalisierung der österreichischen Verkehrspolitik, aber auch zu einer differenzierteren Auseinandersetzung, so Buck: "Die EU wurde verstärkt als Ansprechpartner der Transitgegner greifbar, die in der Folge auch gemäßigter auftraten. Es ging nicht mehr gegen die EU im Allgemeinen, sondern klar um das Wirtschaftssystem, und dass Umweltaspekte viel zu wenig berücksichtigt werden, was wir heute 30 Jahre später ja auch immer noch diskutieren."

Recherche im Medienarchiv
Österreichische Mediathek, Sedlaczek

Rare Quellen

Obwohl die Anti-Transit-Proteste noch nicht allzu lang zurückliegen, sind historische Medienquellen und Objekte aus dieser Zeit rar und in ihrem Bestand teilweise gefährdet. Neben den umfangreichen medienhistorischen Archivbeständen der Mediathek sammelt das Technische Museum auch aktiv Objekte des Protests und Umweltaktivismus. Transparente, Tonbänder oder Videoaufnahmen von Protestkundgebungen aus den 1970er Jahren stellen wichtige zeithistorische Quellen dar. „Die Sammlungen des Technischen Museums und der Österreichischen Mediathek bieten für die Darstellung und Erforschung von umwelttechnischen und energiepolitischen Zusammenhängen eine wertvolle Grundlage. Gerade für Gedächtnisinstitutionen ist das Thema Nachhaltigkeit von großer Bedeutung“, so Peter Aufreiter, der Generaldirektor des Technischen Museums Wiens mit Österreichischer Mediathek. (Marion Oberhofer, 22.2.2020)

Marion Oberhofer ist Kulturjournalistin in Bozen und Wien und bloggt für die Österreichische Mediathek.

Links

Literaturhinweis

Maria Bucks Dissertation ist Teil des FWF-DACH Projekts "Issues with Europe - A Network analysis of the German-speaking Alpine Conservation Movement (1975-2005)"

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