Irgendwann im Sommer kam das Gespräch auf sie. Wahrscheinlich wegen Deinzendorf im Weinviertel, wo Friederike Mayröcker die Sommer ihrer Kindheit verbracht hat. "Die Fritzi ist großartig", sagte Elisabeth von Samsonow und erzählte ein paar tolle Geschichten: "Zum 95er besuchen wir sie!" Jetzt steht sie da, die Mayröcker, und holt uns vom Lift ab.

Die "Weißheit" der Schneerosen zum 95. Geburtstag. Die hat Friederike Mayröcker in dem Buch "Pathos und Schwalbe" beschrieben.
Foto: Maria Ziegelböck

Sie geht am Stock, aber nicht gebeugt, eher zurückgelehnt mit ihren immer noch schwarzen Haaren und trägt eine blaue Jeansjacke. Sie hat für uns Haken an der Garderobe freigemacht. In ihrer Dachwohnung herrscht eine Ordnung im Chaos. Alles hat seinen Platz, wenn auch nicht viel. Sie hat Wassergläser an den Rand eines großen Tisches gestellt, der von Papierstapel vollkommen zugedeckt ist.

Friederike Mayröcker setzt sich in einen Sessel unter die Dachschräge, beleuchtet vom Deckenlicht, zwischen ihr und uns ein weißes Zettelgebirge, an dessen Ausläufern wir auf Hockern sitzen. Gerade hat sie ihren Vorlass der Nationalbibliothek übergeben, die große Dichterin, die am 20. Dezember 95 Jahre alt wird. Der Föhn hat ihr heute Kopfweh bereitet, aber sie hat es gern, wenn es warm ist: "Schön, dass ihr gekommen seid!"

Friederike Mayröcker: Wird sich das ausgehen mit den Sesseln? Es ist wahnsinnig angeräumt hier!

Elisabeth von Samsonow: Das ist alles geordnet hier. Man soll bloß nicht dran rühren.

Mayröcker: Elisabeth, es ist alles ungeordnet. (lacht) Unten im Erdgeschoß gibt es noch die alte Wohnung, die räumen sie jetzt. Dort ist es so furchtbar staubig, dass sie kaum Atem kriegen. Die verfluchen mich schon. Es ist Jahrzehnte nicht aufgeräumt worden. Jetzt arbeiten sie mit Masken.

Samsonow: Das ist eine archäologische Großtat, sich zu deinen Texten durchzukämpfen. Das ist wie bei Ausgrabungen!

Vor uns auf einem Papierstapel liegt zwischen Kuverts und Zettelwerk eine Kopie des neuen Manuskripts, das Friederike Mayröcker gerade abgeschlossen hat.

Mayröcker: Die Doris (Plöschberger von Suhrkamp, Anm.) ist ja extra von Berlin nach Wien geflogen und mit dem Manuskript wieder weggeflogen.

Samsonow: Ich durfte das Buch schon lesen. Du greifst viele Dinge wieder auf, die in deinem Schreiben eine große Rolle gespielt haben. Gekleidet in eine extrem radikalisierte Sprache.

Mayröcker: Und weißt du, ich habe das "Proem" eingeführt. Wir werden sehen, ob es der Doris gefällt.

Samsonow: Proem, das ist ein Prosa-Poem. Das kommt von Baudelaire. Die Radikalisierung deiner Sprache verlangt nach so einer Form, weil es sich so verdichtet.

Mayröcker: Es sind 135 Seiten geworden. Gedruckt sind es 50 Seiten mehr. Ob ich es erlebe, das ist die Frage! Es ist das letzte Buch.

Samsonow: Das hast du beim letzten Buch auch gesagt!

Mayröcker: Es ist wirklich das letzte! Ich habe das Alter gebraucht, um dieses Buch zu machen.

Samsonow: Es ist sehr radikal, deine Mutter kommt wieder vor, dein Vater. Die Bekannten, die man schon hat, aus den vergangenen Büchern und der eine oder andere Freund darf sich glücklich schätzen, dass er vorkommt.

Mayröcker: "Nämlich am 20. Dezember 1924 etwa zur 14. Stunde kam ich auf die Welt. Die Hebamme hob mich hoch und sagte: Engelgotteskind!"
Foto: Maria Ziegelböck

Es gibt mehrere Verweise auf Elisabeth von Samsonow in Mayröcker Büchern: "und ich anfing, derart zu lieben, was wir sprechen und schreiben", steht in "brütt oder Die Seufzenden Gärten" zu lesen. Oder Mayröcker literarisiert in "Pathos und Schwalbe" eine Samsonow-Kunstaktion in der Kremser Minoritenkirche: "Ich wandelte viele Stunden in der entweihten Kirche. Aber der dicke Fisch folgte mir und ich umhalste den weinenden Fisch und er sprach zu mir und er sagte mir meine Zukunft voraus, meine Zukunft in der feuchten Erde ..."

STANDARD: Zum 80. Geburtstag haben Sie in einem Interview gesagt: "Manchmal denke ich, mein Leben beginnt überhaupt erst." Empfinden Sie das noch immer so?

Mayröcker: Ja, ich habe das Gefühl, dass ich erst beginne zu leben, aber leider ist es das Ende.

Sie lacht – vorsichtig, fast kleinlaut. "Ich weiß nicht, ob du das kennst", fragt sie über das weiße Zettelgebirge: "Jetzt fängt man gerade erst an! Das ist natürlich ein Widerspruch."

Samsonow: Du schreibst in dem neuen Buch über deine Geburt. Würdest du uns das noch einmal erzählen?

Mayröcker: Ich war eine Hausgeburt in der riesigen Wohnung meiner Großeltern. Seltsamerweise, ich kann das gar nicht glauben, das war 1924. Und die Hebamme hat zu meiner Mutter, die hat mich sehr jung bekommen hat, gesagt: Engelgotteskind.

"Das verfolgt mich so", sagt die Mayröcker sanft und meint dieses Verfolgen aber positiv: "Engel, Gottes, Kind!", sagt sie noch einmal.

Samsonow: So schöne Worte. Die Hebamme muss überwältigt gewesen sein, als sie dich gesehen hat.

An dem Tag, an dem an Peter Handke der Nobelpreis in Stockholm verliehen bekommt, liest Friederike Mayröcker am Abend im Wiener Literaturmuseum aus ihrem unveröffentlichten Buch, das Publikum lauscht: "Engelgleich nämlich ein Joint / Ich meine der Engel heftige Natur und so weiter / Nämlich am 20. Dezember 1924 etwa zur 14. Stunde kam ich auf die Welt / Die Hebamme hob mich hoch und sagte: Engelgotteskind / Die sehr junge Mutter beugte sich vor, um mich zu erkennen / Die Hebamme aber sagte: Legen Sie sich zurück / Das Unfassbare, das Blutige war geschehen, ich war geboren / Es hat mich vorher noch nie gegeben."

Mayröcker: Meine Mutter war erst siebzehn bei meiner Geburt, mein Vater zehn Jahre älter. Meine Mutter hat mich wahnsinnig lieb gehabt und ich sie auch.

Samsonow: Deine Mutter hat dich in deinem Schreiben auch immer sehr unterstützt.

Mayröcker: Sie hat an mich geglaubt. Alle anderen haben nicht an mich geglaubt. Aber sie hat immer gesagt: Du wirst einmal ganz groß werden.

Samsonow: Es heißt ja auch Muttersprache und Vaterland. In deiner Sprache stellst du die Nähe zwischen Bewusstem und Unbewusstem her. Es fällt besonders bei deinen neuen Proemen auf. Bewusstsein und Traumbewusstsein fließen ganz ineinander. Es wird ein Zustand zwischen Wachen und Schlafen hergestellt.

Mayröcker: Nach dem Erwachen, so um sieben, hab ich schon das Gefühl, jetzt könnte ich alles aufschreiben, was da in mir vorgeht. Das mach ich dann auch.

Samsonow: Eine Schwellenzeit, in der man noch nicht ganz wach ist.

Mayröcker: Der Morgen ist das Beste. Unsere beste Zeit. (lachen)

Foto: Maria Ziegelböck

STANDARD: "Unsere beste Zeit", sehr schön. Wo haben Sie beide sich eigentlich getroffen?

Mayröcker: Oh, das war eine schöne Geschichte.

Samsonow: Das war ein richtiges Abenteuer. Ich habe dich damals gesehen und dachte: Wer ist diese schwarze Göttin? Du hattest eine schwarze Mütze auf den schwarzen Haaren und einen schwarzen Mantel an. Du bist wie ein Monument im Speisewagen gestanden. Dann ging die Lokomotive kaputt, und wir mussten alle aussteigen, irgendwo in einem kleinen Bahnhof auf der Strecke nach Deutschland. Und als wir wieder eingestiegen sind, saßen wir in dem ganzen Trubel plötzlich nebeneinander. Das war 1993.

Mayröcker: Du weißt das noch! Und ich hab mich sofort in deinen Hund verliebt.

Samsonow: Der Heinzi war ein Zwergrehpinscher. Er hatte einen Matrosenanzug an und saß auf meinen Knien. Die Dame neben mir hat ihn unentwegt angeschaut. Die Fritzi hat über den Hund angebandelt.

Mayröcker: Ich bin so ein Hundenarr, aber ich selbst hatte nie einen. Sonst könnte ich einfach nicht schreiben.

Samsonow: Weißt du noch: Du hast ja dann ein Mayröcker-Buch nach dem anderen rausgezogen, und ich habe dich tatsächlich gefragt: Sind Sie Mayröcker-Forscherin? (lachen)

Mayröcker: Ja, das war gut.

Samsonow: Und du hast gesagt: "Nein, ich bin Friederike Mayröcker." Das weiß ich noch genau. Ich bin fast in Ohnmacht gefallen.

Mayröcker: Du hast mich sofort fasziniert. Und in den Heinzi hab ich mich verliebt.

Samsonow: Irgendwann bist du ausgestiegen. Du hattest eine Lesung im Hölderlinturm in Tübingen, und ich fuhr weiter zu einer Tagung. Kaum war ich in Wien, läutete das Telefon, und die Fritzi war dran. So begann unsere Freundschaft. Es war Winter, der Heinzi trug diesen Anzug.

Mayröcker: Den hast du ihm genäht. Ich erinnere mich, dass er bei den Vorlesungen, die ich von dir besucht habe, immer auf deinem Schoß saß. Ganz still. Und dann ist er gestorben.

Samsonow: Das Weinviertel hat uns auch verbunden. An Deinzendorf, wo du deine Kindheitssommer verbracht hast, kannst du dich gut erinnern?

Mayröcker: Ja! So als würde ich dort jetzt spazieren gehen. Da ist das Haus und der große Garten, das war ein Prachtgarten.

Samsonow: Die Blumen, die in deinem Schreiben vorkommen, haben die mit Deinzendorf zu tun?

Mayröcker: Oh ja. Ich hab die Blumen alle schon gekannt, als ich noch klein war. Mein Vater war Volksschullehrer und hat mir immer alles erklärt, wie Lehrer das so machen. Und ich hab mir das alles gemerkt. Es waren schöne Sommer.

Samsonow: Ich hab neulich die Vogue aufgeschlagen und ein Zitat von dir gefunden, das klang wie von einem Rapper.

Mayröcker: Von wem? Ah, Rapper. (lacht) Das ist sehr gut.

Samsonow: Ich habe das Gefühl, du bist auf einer Stufe mit den großen Rappern der Gegenwart. Du bist wild und schreibst Dinge, die gewaltige Erfindungen sind.

Mayröcker: Erfindungen mache ich, aber darüber denke ich nicht nach. Die kommen. Du weißt ja, wie das ist. Die kommen einfach.

Friederike Mayröcker, "Pathos und Schwalbe", € 24,70 / 266 Seiten. Suhrkamp-Verlag, 2018
Foto: Maria Ziegelböck

Samsonow: Es ist auch unglaublich: Du hast ein extrem junges Publikum.

Mayröcker: Ich fühl mich manchmal, so seltsam das klingt, wie ein junges Mädchen. Ich beobachte das, zum Beispiel wie die Mädchen im Sommer begonnen haben, sich eine Schulter frei zu machen. Das kann ich so nachfühlen, man muss einfach die eine Schulter freihaben. Lauter so Sachen!

Tatsächlich sind am 10. Dezember im Literaturmuseum unzählige junge Menschen zur bald 95-jährigen Dichterin gekommen. Anja Plaschg alias Soap & Skin rezitiert eigene Gedichte, singt und bedankt sich bei Friederike Mayröcker: "Man lebt noch etwas lieber", sagt sie, "wenn man weiß, dass es Menschen wie sie gibt!" Später wird im Metro-Kino der zehn Jahre alte sehenswerte Mayröcker-Film "Das Schreiben und das Schweigen" von Carmen Tartarotti gezeigt.

STANDARD: Unten im Haus steht Ihr Rollator. Gehen Sie noch raus?

Mayröcker: Ich schäme mich für diesen Rollator. Wenn das nicht so furchtbar gewesen wäre, mit diesem Sturz in Graz vor vier Jahren, eine Stunde vor der Lesung, dann könnte ich heute normal gehen.

Samsonow: Die Edith wollte gar nicht nach Graz fahren. Dieses Graz-Gefühl wurde bei dir literarisch verarbeitet. Das Graz-Gefühl steht für etwas, das man lieber nicht machen sollte.

Mayröcker: Ich hatte Blutungen im Hirn, sie wollten sie mir schon den Kopf aufmachen, Gott sei Dank haben sie das nicht gemacht.

Samsonow: Daraus entstand dann Ich bin in der Anstalt.

Mayröcker: Nein Pathos und Schwalbe. Ich bin in der Anstalt war früher, da haben mir dann viele geschrieben, die auch in einer Anstalt sind.

STANDARD: Sie werden auch bei Podiumsgesprächen immer wieder gefragt, wie das alles zu verstehen ist. Manchmal antworten Sie: Zusammenreimen!

Mayröcker: Ja, weil mir die Leser eigentlich leidtun.

Samsonow: Die bekommen aber auch eine sehr spezielle Behandlung bei der Lektüre deiner Texte. Die geht sehr tief. Man gerät in einen Zustand zwischen Erleuchtung und Verdattertsein, weil man gar nicht glauben kann, dass jemand so schreiben kann. Es ist eine Form des literarischen Extremismus, zu dem du gefunden hast. Aber du bist dabei ganz desinteressiert an einer Narration.

Mayröcker: Ich hab mir jahrelang gedacht, du musst das versuchen. Aber ich kann nicht erzählen. Mir kommt das auch so blöd vor.

Samsonow: Du hast eine gänzlich unklassische Dramatik.

Mayröcker: Handke ist Klassiker.

STANDARD: Müssen Sie gerade an ihn denken?

Mayröcker: Ja, ich denk an ihn. Na ja, jetzt krieg ich den Preis nimmermehr. Jetzt ist er weg. Aber ich gönn’ ihm das schon.

Standard: Ihr neues Buch erscheint im neuen Jahr?

Mayröcker: Es ist das letzte. Man wird ja auch schwächer. Wenn man so ein hohes Alter hat, denkt man sich: Noch ein Buch und noch ein Buch: Wozu?

Samsonow: Das hast du dir schon öfter gedacht, und dann ist der Geist wieder gekommen. Der Heilige Geist. Es macht dir doch Freude, das Schreiben. Du schreibst, deine Mutter hätte dich als Tintenfisch auf die Welt bringen können, weil es hätte sein können, dass in deinen Adern ausnahmslos Tinte läuft statt Blut.

Mayröcker: Es macht mir Freude, das Schreiben. Ja, Tinte statt Blut.

Samsonow: Da fällt mir noch eine andere Flüssigkeit ein, mit der du sehr verbunden bist: Tränen.

Mayröcker: Tränen. Jacques Derrida: "Wollen Sie mit mir über Tränen sprechen?" Wunderbar.

STANDARD: Weinen Sie viel?

Mayröcker: Ich weine wahnsinnig viel, den ganzen Tag eigentlich. (lacht) Das ist auch eine Beschäftigung.

Samsonow: Unsere liebe Frau von den Tränen. Du weinst ja auch beim Schreiben.

Mayröcker: Seit ich das Manuskript abgegeben habe, denk ich nur ans Sterben, aber das muss ja auch einmal sein. Ich denke, dass ich nichts mehr machen kann. Das kennst du. Man ist so leer.

STANDARD: Weil wir heute schon über Ihre Geburt gesprochen haben. Freuen Sie sich auf Ihren Geburtstag?

Mayröcker: Nein, ich habe Angst. 95 ist ein Wahnsinn schon. Ich versteh es gar nicht, wie man so alt werden kann.

Samsonow: Ich hab dich kennengelernt, da warst du kurz vor achtzig. Da waren dein Sein und dein Schreiben schon vollkommen verbunden. Du bist aufs Ganze gegangen. So wird man 95.

STANDARD: Sie sagen oft, dass Ihnen alles geschenkt wurde.

Mayröcker: Mir wird und mir wurde geschenkt. Die meisten Schriftsteller sind ja gescheit, und ich bin absolut nicht gescheit. Und darum lass ich mir was schenken. So ist das ungefähr!

Samsonow: Der Heilige Geist weht bevorzugt hier. Der Film von Carmen Tartarotti, war das auch hier?

Mayröcker: Nein, das war unten. In der Wohnung im Erdgeschoß, die ich zuerst gehabt habe. Der Ernst (Jandl, Anm.) hatte damals eine Wohnung im vierten Bezirk im vierten Stock ohne Lift und ist dann für ein Dreivierteljahr hierhergezogen. Das Literaturhaus hat gesagt, er darf hier wohnen.

Samsonow: Du hast immer gesagt, dass das sehr schön war, dass ihr dann in einem Haus zusammengewohnt habt.

Mayröcker: Ja, das war schön, aber zum Arbeiten bin ich immer runter. Ich kann ja nicht arbeiten, wenn noch jemand dabei ist.

Samsonow: Du brauchst den Raum für dich selbst.

Mayröcker: Nicht nur den Raum, die Wohnung! Es ist so ein Schamgefühl, wenn man weiß, da ist noch jemand. Ja, auch wenn man mit dem Menschen sehr innig ist. Ich hab immer nur in meiner Wohnung geschrieben. Ich bewundere die Autoren, die auf Reisen oder im Kaffeehaus schreiben können. Ich hab den Ernst bewundert. In Rohrmoos bin ich gegangen und gewandert, allein. Als ich zurückgekommen bin, hat er mir gleich vorgelesen, was er geschrieben hat. (lacht) Ich hab's nie verstanden.

STANDARD: Frau Mayröcker, wie hat sich Ihre Beziehung zu Ernst Jandl verändert, der ja jetzt schon 20 Jahre lang tot ist?

Mayröcker: Es ist leider so, dass ich Angst habe, ihn zu vergessen. Ich kann ihn mir nicht mehr vorstellen, und das ist etwas Furchtbares. Und zuerst wollte ich nicht mehr leben.

Samsonow: Du wolltest auch nicht mehr schreiben.

Mayröcker: Die Edith hat mich gerettet. Die ist jeden Tag zu mir gekommen, ist mit mir spazieren gegangen und hat mit mir gesprochen. Sie ist ja Psychotherapeutin. Die hat das wunderbar gemacht.

Es klingelt, die Fotografin ist da. "Es hat geläutet und wir haben es kaum gehört", sagt Friederike Mayröcker und lässt es sich nicht nehmen, sie selbst vom Lift abzuholen. Während ihr Mayröcker den Lift nach unten schickt, steht sie im Gang ihrer Wohnung vor einem Spiegel, an dessen Seiten Haltegriffe angebracht sind. Mayröcker sieht sich an, befühlt ihre Wange: "Wissen Sie, ich hab eine Augenentzündung!" Sie streicht sich die schwarzen Haare zurecht. Ohne Kajal sieht sie tatsächlich wieder aus wie ein Mädchen. Als die Fotografin da ist, sagt sie: "Wollen Sie den Mantel ablegen, kommen Sie bitte weiter. Wir müssen schauen, ob wir noch einen Sessel finden. Jetzt müssen wir zaubern!" (Mia Eidlhuber, ALBUM, 20.12.2019)