Im Dorf, in dem ich leben darf, gibt es einen hilf- und sinnreichen Weihnachtsbrauch, jedenfalls in den traditionsgesinnteren Häusern: das Männerhinausscheuchen. Männer neigen ja zuweilen dazu, sinn- und hilflos im Weg herumzustehen und eng getaktete Aufgabenkadenzen durcheinanderzubringen. Am Heiligen Abend ist das besonders knisternd. Also sagen die weiseren unter den Frauen: "Hol wenigstens die Getränke!" Und weise Männer tun es flugs. Sie wissen es zu deuten. Dieses wenigstens.

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"Unverdrossen von der Transzendenz der Welt erzählen".
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Beim Getränkehändler stehen sie dann, die Hinausgescheuchten mit ihren Tiefladerwagerln. Kisten mit Bier, Mineral- und für die Tschapperln Tschapperlwasser. Der Wein ist seit gestern zu Hause. Man weiß ja, sich nützlich zu machen wenigstens. Der Getränkehändler sagt: "Prost!" Und weil Männer Männer sind, werden auch Spiele gespielt. Eins dreht sich zum Beispiel um ein Kleinstgebinde namens Jägermeister, von welchem hier aber nicht viel verraten werden kann (Ja, auch aus dem Grund).

Zwölf Weihnächte

Dann gesellt sich der Pfarrer dazu. Auch zu ihm sagt der Getränkehändler: "Prost!" Auch der Pfarrer ist ein Mann. Einer, der das Durstvolle seiner Geschlechtsgenossen wenn schon nicht zu schätzen, so doch einzuschätzen und manchmal wohl auch zu teilen vermag. "Prost, Buiwan!", sagt er also. Und ehe man sich’s versieht, legt man sich mit ihm in einen schönen theologischen Disput, in dem es flott geht vom Hundertsten der liturgischen Semiotik ins Tausendste dessen, was Leib und Seele zusammenhält. Nicht nur, aber doch vor allem in den nun bevorstehenden zwölf Weihnächten zwischen den Jahren.

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Bis heute nennt man diese tagesdunkle Zeit zwischen Heiligabend und Dreikönig die stille. Die ansonsten so betriebsame Welt hält tatsächlich ein paar Tage lang inne (und man wünschte sich, auch den Mund). Diese Tage geben einem – über all die Profanität des umfassenden Kommerzienscheins hinweg – eine leise, ferne Ahnung von Heiligkeit. Die Emsigkeit des Tuns lässt etwas nach.

Dadurch dreht sich das Hamsterrad, das sich ja nur dreht, wenn einer drinnen läuft, eine bedeutende Spur langsamer. Ein jeder wird – und ein jeder auf seine Weise –, wenn schon nicht ruhiger, so doch beruhigter. Ein jeder ist – und ein jeder auf seine Weise –, wenn schon nicht bei, so doch nahe bei sich und den Seinen. Die Menschenwelt schaltet gewissermaßen auf Notbetrieb und imitiert so die Natur, die das in diesen Tagen seit jeher macht. "Von drauß’ vom Walde", sang Theodor Storm, "komm ich her / Ich muss euch sagen, es weihnachtet sehr!"

Ja ja, eh: Es ist alles voller Punschhütten und Christkindlmärkten, voller Kugeln und Engelshaar, voller Lebkuchen und Vanillekipferln, voller Fressen und Saufen. Mit aller menschenmöglicher Penetranz wird die Schau-Gutherzigkeit beschworen. Der ORF mutiert zur größten Kanzel des Landes. Selbst oder gerade Bischof Wrabetz salbadert, was das Zeug hält, im Bemühen, das schnöselig pharisäerhafte Charity zur selbstlosen Caritas hochzupredigen. Das ist Weihnachten in all seinen innig tuenden Veräußerungen natürlich auch. Dennoch sollte man die besinnliche Wucht dieses Festes nicht zu sehr unter den Scheffel des Geschwafels und Getues stellen.

Am Ende stehen dann nämlich alle neben – feierlich hieße es "unter" – dem Baum mit seinen Kerzen und Packerln und Sterndlwerfern und Kugeln und Naschereien und Lametta und fänden es erbärmlich, es ausschließlich kitschig zu finden. Ein jeder will das, was ihm selbst als Kleinem, was ihr selbst als Kleine das Herz warm und die Augen groß gemacht hat, den eigenen Kindern nicht missgönnen. Und die wollen das dann auch nicht. Und so weiter. Auf diese Weise entstehen Bräuche: "Stille Nacht, heilige Nacht" ("Oh Tannenbaum, oh Tannenbaum", singt einer auf so pubertäre Weise, dass nicht nur der Pfarrer scheel zu schauen gezwungen ist.).

Wintersonnenwende

Religiöse Festzeiten sind nicht nur hartnäckig und fransen tief aus, selbst in jene Unglaubenszeit hinein, in der wir es uns eingerichtet haben. Denn sie setzten sich ihrerseits ja auf anderes, noch Tiefergehendes drauf. Weihnachten ist ein besonders gutes Beispiel dafür. Feierlichkeiten und Feierlaunigkeiten hat es in diesen Tagen wohl gegeben, seit es Himmelsbeobachtungen gab und der Urvater der drei heiligen Könige (Mt., 2,1: "Weise aus dem Morgenland") das Phänomen der Wintersonnenwende beobachten konnte.

Dass also die Höllenfahrt der Sonne sich umkehrt, die schal gewordene Sonne allmählich wieder Kraft gewinnt, das Jahr sich wendet, hin zum wieder erwachenden Leben. Am Ende der Weihnächte – Mitte Jänner, wenn die Orthodoxen ihr Neujahr feiern – spürt man ihn dann schon wieder, den Tag. "Es ist ein Ros entsprungen / aus einer Wurzel zart."

Nicht zufällig ist die schöne, rätselhafte, anspielungsreiche Geburtsgeschichte aus der Davidstadt Bethlehem auf den 25. Dezember gelegt worden, auf jenen Tag also, der im julianischen Kalender ursprünglich als der kürzeste des Jahres gegolten hat. Kaiser Aurelian (214–275) weihte diesen Tag dem Sol Invictus, dem unbesiegten Sonnengott. Konstantin (272–337), wie Aurelian ein schwertgewaltiger Wiedervereiniger des Imperiums, stellte den Tag unter jenes Christuszeichen, unter dem er 312 die Schlacht an der Milvischen Brücke und damit Rom für sich gewinnen konnte. Das Bethlehem’sche Bauxerl stieg somit rasch auf zum Reichsgott.

Mysterienkult

Nicht bloß das Christentum jeglicher Ausprägung ist eine synkretistische Religion, die sich nicht nur in ihrer Lehre, sondern vor allem auch in ihrer Übung zusammengeklaubt hat. Synkretisch war schon der Kult des unbesiegten Sonnengottes, der zwar seine reinrömischen Wurzeln hatte, aber im Imperium vor allem mit der Verehrung des persischen Mithra ineinanderfloss.

Die Legionen säten den Mysterienkult dann überall aus im Reich. Die konstantinischen Bischöfe wären, wie man heute sagen würde, schön blöd gewesen, hätten sie sich nicht auf das bereitstehende Pferd gesetzt. Vom Sonnengott stammt der ikonische Heiligenschein. Der Oberstpriester der Mithraiten wurde Papa genannt und trug als Zeichen seiner Würde eine phrygische Mütze, die sich Mitra nannte, so wie heute noch der Bischofshut. Und das waren bloß die Äußerlichkeiten.

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Das alles muss einer nicht bedenken, wenn die kurzen Nächte das Land herunterfahren in einen weitgehenden Ruhemodus, der sich selbst durch das Silvestergedröhne kaum aus der Ruhe wird bringen lassen. Aber es kann – meint nicht nur der Pfarrer – nicht schaden, kurz auch in die Tiefe der Jahre zu schauen. Weihnachten spricht, lieblicher und verträglicher als Ostern, jenen Gottesfunken an, von dem jede Religion zwangsläufig zu reden hat. Und damit immer wieder ungelegen kommt. Nicht nur heutzutage, da einem das Transzendente ein wenig peinlich geworden ist.

Weihnachten und die dazugehörigen Themen – Herbergssuche, Kindbett, Massaker, Verfolgung, Flucht, Standfestigkeit, Glauben, Bangen, Hoffen, Lieben und über allem: Familie – bewegen auch die immanent gewordene Welt. Die einschlägigen Geschichten erzählt man sich seit Anfang an. Aber seit Anfang an tut man das eben in der jeweiligen Zeit.

Beinahe ein Gottesbeweis

Die heutigen Bräuche sind allesamt relativ junge Erscheinungen, eng geknüpft ans Heraufdämmern des bürgerlichen Lebens. In der deutschen Literatur hat erstmals Goethe in seinem Werther einen "aufgeputzten Baum" erwähnt. Gleichwohl waggerlt Weihnachten durchs innere Lichtermeer, als sei alles immer schon so gewesen. Weihnachten mit seinen Weihnachtlichkeiten ist hartnäckig. Drängt sich mit Wohligkeit ins Sentiment: Wohl dem, der nun eine Familie hat, in die hinein er sich zurücklehnen kann. "Es wird scho glei dumper / es wird ja scho Nocht."

Unter all den Christfesten ist Weihnachten das familiärste und darum wohl auch das anfälligste fürs heimliche Dochglauben; ein Einfallstor fürs Gottesfünklein; kommunikationstechnisch beinahe ein Gottesbeweis. Weihnachten funktioniert auch in einer vollkommen immanent gewordenen Welt, in der ein jeder sich gerne duckt ins gewissermaßen onanistische Menschenbild. Unverdrossen erzählt Weihnachten, geradezu vernarrt ins Unzeitgemäße, von der Transzendenz dieser Welt. Davon, dass der Herrgott sich selbst als seinen eigenen Sohn herunterschickt ins Jammertal, einen Webfehler der Schöpfung zu korrigieren.

Die Maria solle ihn auf diese verderbte Welt bringen, in sein eigenes Misslingen gewissermaßen. (Und Josef – welcher Vater wüsste nicht davon zu erzählen – steht sinn- und hilflos daneben in seinem Wenigstens.) In den alten Kulten, die in den Christglauben hineingeschmolzen sind, war weder das Ins-Fleisch-Treten des Gottes noch die Jungfrauengeburt etwas besonders Außergewöhnliches. Heutzutage, da wir es verlernt haben, sich dem Zauber der Erzählungen hinzugeben, klingt das wie ein Skandalon des Vorvorgestrigen: Nur Trottel glauben an so etwas!

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"Ja mein Gott", sagt der Pfarrer, "das mag schon sein." Niemand aber solle sich zu sicher sein. Schon gar nicht in einer Zeit, in der es keine Rätsel mehr geben solle; dafür aber für alles, was geschieht, wenigstens einen namhaft machbaren Schuldiger. "Kennt einer von euch den Emanuel Geibel, den deutschen Dichter aus dem 19. Jahrhundert?" Die Hinausgescheuchten winken mit ihren Gebinden ab. Also rezitiert der Pfarrer. Hinterfotzig, wie mir scheinen will: "Glaube, dem die Tür versagt, / steigt als Aberglaub ins Fenster. / Wenn die Götter ihr verjagt, / kommen die Gespenster."

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"Apropos Emanuel", sagt dann einer. Matthäus habe doch erzählt, dass, als Josef noch nicht der Nährvater gewesen ist, sondern noch überlegte, die unredlich schwanger gewordene Maria zu verstoßen, ein Engel zu ihm gekommen sei und an den alten Jesaja erinnert habe: "Siehe, die Jungfrau wird empfangen und einen Sohn gebären, und man wird ihm den Namen Immanuel geben." – "So steht es geschrieben." – "Und warum hat er dann Jesus geheißen?"

"Ja mein Gott."

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Wenig später schaut einer – mag sein, es war eh der Getränkehändler selbst – auf die Uhr und ruft: "Jessasmaradnjosef!" Alle stimmen ein und geraten in Eile. Nur der Pfarrer nicht. Der hat anderes zu tun. Mag sein, Wichtigeres.

(Wolfgang Weisgram, ALBUM, 21.12.2019)