Max und Moritz als Figuren in der Samuel-Beckett-Nachfolge: Mavie Hörbiger (li.) und Katharina Pichler grüßen das Publikum via Bildschirm und bitten herzlich um ein bisschen Ewigkeit.

Foto: Matthias Horn

Bis der unumgänglich letzte Weltuntergang absolviert ist, dauert es eine kleine Ewigkeit. Immer dann, wenn das Theater von der Zukunft keinen blassen Schimmer hat, stürzt es sich kopfüber in den Untergang. Das ist im Wiener Burgtheater wortwörtlich zu verstehen. Ein Vorhang bildet die Grundlage für ein Video; ein Jüngling (Felix Rech) fällt gliederfuchtelnd von einem Wolkenkratzer herunter. Aber was für eine Wollust für den mutmaßlichen Suizidanten!

Die Endzeit-Oper "Dies Irae – Tag des Zorns" wirbt sehr nachdrücklich für ein Ende für alle. Tatsächlich haben unsere Hochkulturen eine Menge Hirnschmalz auf das Armageddon verwendet. Durchdringend laut donnern die Schläge des Countdowns. Bei "1" ist Schluss, und endlich schreckt der Lebensmüde qua Videoüberblendung aus dem Schlaf hoch.

Das Wort haben ab nun nicht nur Gewährsleute wie Friedrich Nietzsche, Primo Levi, Jean Paul, Ezechiel oder Johannes, der Apokalyptiker. Zeit für den designierten Direktor des Wiener Volkstheaters, alle Beamer in Stellung zu bringen und gleich vier Leinwände mit Bildern von Sterbekrämpfen und Orgasmen zu bewerfen. Im klitzekleinen Tod, lernen wir, hält der größtmögliche die Generalprobe ab.

Hohepriester am Altar

Zur Erkundung des finalen Abgangs hat Regisseur und Endzeitopernimpresario Kay Voges eine unendlich kleine Zeiteinheit ins Auge gefasst: etwa die zwischen Aufprall und Zerschellen. In diesem Nano-Bereich soll, einer frommen Legende zufolge, der Todgeweihte sein ganzes Leben an sich vorüberziehen sehen.

Voges, ein Hohepriester am Doppelaltar von Popkultur und Digitalität, packt in diesen winzigen Augenblick, der endgültig Aufschluss über unser Schicksal bringt, möglichst viele Lebensinhaltsstoffe hinein. Es ist, um nur mit der Wahrheit herauszuplatzen, sterbenslangweilig.

Geschlagene zwei Stunden dreht sich eine Frank-Castorf-Gedenkbühne im Kreis (Ausstattung: Daniel Roskamp, Kostüme: Mona Ulrich). Die Schauspieler trippeln treppauf, treppab. Das Segment einer Boeing enthält einen mopsfidelen Flugkapitän (Florian Teichtmeister). Der begrüßt auf Geheiß der Fluglinie "Air Magedddon" (sic!) die Passagiere, unter ihnen die anbetungswürdige Dörte Lyssewski, zu einem Flug von Sodom nach Gomorrah.

Maschine verliert Fracht

Irgendwann wird die Maschine überm Atlantik menschliche Fracht verlieren. Die Flugbegleiter ähneln hingegen Zombies, denen der Lebenssaft von der Unterlippe tropft. Aber weiter durch das Dickicht der Begebenheiten: Ein ehrwürdiger Greis (Martin Schwab) muss im Beisein von Weib und Kind sein Leben mehrfach aushauchen. Immer, wenn er stirbt, sieht er Giraffen durch die Savanne galoppieren. Ein Hotelpage (Markus Meyer) trägt währenddessen einen Müllsack spazieren. Postmoderne Krieger richten den infraroten Zielstrahl beherzt aufs Publikum.

Max und Moritz (Katharina Pichler, Mavie Hörbiger) schauen ebenfalls vorbei: Sie ergehen sich, wohl als Figuren in der Beckett-Nachfolge, in allerlei Spitzfindigkeiten über das Wesen der Ewigkeit. Nacheinander werden alle sieben Siegel der Offenbarung erbrochen. Wie gut, dass einen Einblendungen an die grundsätzliche Umkehrbarkeit aller Ereignisse erinnern. Man hätte diesen Umstand sonst niemals erwogen.

Live hört man Musik von Larry Mullins alias Toby Dammit, Simon Goff und Paul Wallfisch poltern. Einige dieser Herrschaften haben in der Vergangenheit US-Lärmprediger Michael Gira von den Swans beim Sprechsingen begleitet. Dieser Radikale hätte die im Verborgenen agierende Band für ihren lahmen, verwaschenen Musical-Blues womöglich vom Hof gejagt. Aber wie gering wiegen Einwände, wenn man an den Weltuntergang denkt. Von der Glückseligkeit trennt die Sterblichen oft bloß eine Zungenlänge. Das vom Boulevard treuherzig herbeifabulierte Kopulieren macht softpornografischer Menschenliebe Platz, inklusive Cunnilingus.

Aufenthalt im Hotel

Voges und dessen Co-Writer Alexander Kerlin haben unter der roten Leuchtreklame eines Hotels Eden Quartier bezogen. Ein Zwischenaufenthalt im Limbus, denn "Eden" lässt sich prima in "Ende" umbuchstabieren. Dort muss man das rassistische Gequatsche des Trump-Beraters Stephen Bannon über sich ergehen lassen. Oder Walter Benjamins "Engel der Geschichte" macht, völlig folgenlos, seine Aufwartung. Dass der Unterschied zwischen Bannon und Benjamin gerade einer ums Ganze ist: Man müsste es Voges, womöglich vor Dienstantritt im Volkstheater, vielleicht mitteilen.

Einen Sturm, der vom Paradiese her weht, wird er dort jedenfalls gut gebrauchen können. (Ronald Pohl, 20.12.2019)