Als überall in der Stadt Plakate zur Bewerbung des neuen Rotweins hingen, bin ich nach Paris gekommen. Erst wenige Tage sind seit den Schüssen im Theater vergangen. Ausnahmezustand. Aus der Ferne hat dieser Ort wie ein einziger Kriegsschauplatz gewirkt. Dennoch feiern die Menschen – das Leben und sich selbst – allem zum Trotz.

In Montparnasse habe ich ein kleines schäbiges Zimmer bezogen: feuchte Wände, ein viel zu weiches Bett, ein Schreibtisch und ein Fenster, von dem aus ich die gegenüberliegende Ziegelwand fast greifen kann. Strecke ich meinen Kopf hinaus, sehe ich mit etwas Mühe die Mauer zum Friedhof. Ich habe mir das alles anders vorgestellt, doch es muss genügen. Heute ist mein 30. Geburtstag. Ablenken.

"Mein Schatten über Becketts Grab. In einer halben Stunde werden die Tore für die Nacht geschlossen. Glocke."
Foto: Mario Schlembach

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Ameisen kriechen aus dem Grab von Samuel Beckett. Sie haben eine Straße bis zur Nachbargruft der "Famille E. Petit" gebildet. Es herrscht Rechtsverkehr – seltsamerweise. Die rechte Reihe kriecht in das Grab von Beckett, die linke kriecht aus ihm heraus. Alles läuft in geregelten Bahnen. Zuerst überrennen sie seine Augen, dann die Zunge, seine Lippen, die Ohren und seine Nase, bis sie sich auch auf den Rest stürzen. Die Ameisen brauchen Jahre, um seine ganze Gestalt aus dem Grab zu heben.

Es ist ein langer Abstieg zu seinem Sarg. Die Wände sind aus alten weinroten Kaminziegeln gebaut und reichen fast drei Meter in die Tiefe. Als Becketts Sarg hinabgesetzt wurde, war er versiegelt. Die Ameisen müssen warten, bis die Ränder spröde werden, um mit dem ersten Luftzug in sein Innerstes zu gelangen. Sobald sie einmal die Spur für die Straße gelegt haben, geht alles ganz schnell. Jede Ameise trägt fast das Zehnfache ihres eigenen Körpergewichts von Beckett davon und bringt ihn in das gemeinsame Nestlager.

Kokon der Dichtung

Es ist nicht nachzuvollziehen, wo sich ihr Bau genau befindet, wohin sie ihre Beute tragen. Beckett kann jetzt überall sein ... Oder es verhält sich ganz anders. Vielleicht arbeiten die Ameisen Beckett zu, und er wird zu ihrer Königin, die auf ihren Eiern sitzt und noch immer die Welt mit Sprache versorgt. Beckett liegt da, in seinem Kokon der Dichtung.

Er hat so geschrieben, dass selbst der Tod ihm nichts anhaben kann. Alle Worte Becketts sind so dicht, dass sie in allen anderen enthalten zu sein scheinen. Und die Ameisen tragen sie in die Welt hinaus. Wer seine Literatur mit der allerersten Frage des Schreibens überhaupt enden lässt – "Comment dire?", dem muss jeder, der schreibt, zuarbeiten und von ihm wegarbeiten, denn mehr Dichtung steckt in einem Leben nicht.

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Unheimliche Sätze. Wissenschaftliches Geschwafel. Zu viel gelesen. Zu wenig verstanden. Ich warte in diesen vier Wänden, bis etwas passiert. Irgendetwas muss passieren. Irgendwas passiert immer. Stimmen. Die Pappwände dieses alten Hauses sind dünn. Jeden Atemzug der ständig wechselnden Liebesspiele höre ich, die vom Quietschen der Bettfedern begleitet werden.

Nur selten passt der Takt, das meiste ist ein mechanisches Geschiebe – ein, zwei nervöse Schläge, der Rest ist peinliche Benommenheit. Viele Väter mit ihren Söhnen habe ich verlegen auf der Straße gesehen. Damit sie ihr Herz nicht im Rausch der ersten ungestümen Verliebtheit opfern, werden sie hierhergebracht. Sie sollen "ihre Unschuld verlieren", "zum Mann werden", wie ich die besorgten Herren fast jedes Mal als Totschlagargument sagen höre.

Viele Jungen stürzen sich mit Vorfreude ins Ungewisse – in Kenntnis der prahlerischen Heldentaten ihrer Vorgänger, denen sie aufs Wort glauben. Andere zögern, haben ihr Herz bereits vergeben und wollen sich diesen ersten letzten Schritt für ihre Geliebte aufbewahren. Ohne es zu ahnen, habe ich mich in einem Stundenhotel einquartiert. Ablenken.

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Ein alter Mann setzt sich auf die Grabplatte Becketts. Er holt einen zerknitterten Brief aus seiner Tasche und starrt ihn lange an. Das weiße Kuvert ist bereits völlig vergilbt. Ist der Mann wirklich alt? Es lässt sich nicht sagen. Er ist hager, groß gewachsen und abgemagert. Das Gesicht ist eingefallen, die Zähne fehlen ihm, die Haare sind ergraut.

Sätze zerfallen im Mund

Ein beiger Anzug umhüllt formlos seinen Körper, unter dem Jackett blitzt ein dreckiges T-Shirt durch. Seine ehemals weißen Turnschuhe sind abgetragen. Ist der Mann nun alt oder nur "vom Leben gezeichnet", wie man es, mit allen möglichen Klischees behaftet, sagt? Im richtigen Licht, von einer bestimmten Seite, hat er die Züge des Mannes, der unter ihm liegt, aber bei weitem nicht seine Vitalität, die sich so klar in seinem Blick ausgedrückt hatte.

Die Augen des Mannes sind leer und wie im Nebel seines eigenen Lebens gefangen. Scheinbar träumend nimmt er den alten Umschlag in die rechte Hand und lässt die Linke durch die Luft gleiten, als würde er eine Figur nachzeichnen.

Niemand ist bei ihm, aber der alte Mann – als wäre er mit neuem Geist belebt – beginnt plötzlich mit jemandem zu reden. Er redet und redet, ohne dabei seinen Kopf zu bewegen. Seine Aussprache ist holprig, hart und endsilbenbetont. Es fehlt der Fluss, die Melodie der gleitenden und ineinander übergehenden Artikulationsbewegungen, die das Französische zur Musik werden lassen. Seine Sätze zerfallen ihm im Mund wie staubtrockene Madeleines. Die Wörter Liebe, Frau und Tod sind deutlicher als alle anderen zu hören. Wie in einer Dauerschleife wiederholt er sie: "L’amour. La femme. La mort ..."

Dann längere Passagen. Der alte Mann wartet auf Antwort, zieht Grimassen und lacht. Seine Hand hebt er nun so, als würde er sie um eine Frau legen, die neben ihm sitzt. Er spricht wieder und wirkt wie in den ersten Momenten des Sich-Verliebens. All das kann man aus seinen Gesten deuten, seinen Handbewegungen. Seine Lippen formt er zu einem Kuss und lässt seine Zunge Worte in ihrem Mund bilden. Die Frau ist nicht hier, nicht gegenwärtig, nicht greifbar, und doch küsst er sie – durch alle Zeit hinweg –, als wäre es zum ersten Mal.

Es ist ein Schleier des Lebens, der ihn umgibt. Irgendwo zwischen seinen Augen liegt ein Leben, das bereits gelebt wurde. Eine Liebe, die geliebt wurde. Eine Reise, die zu Ende geht. Ein Atem, der keine Luft mehr holt und nur noch auf den Stillstand wartet. Noch ein Schritt, ein kleiner Schritt, und auch der letzte Funken Leben entschwindet ihm, und er tritt hinüber in den Tod, in dem keine Zeit mehr herrscht.

Tränenlachendes Smiley

Der alte Mann wird keine Schmerzen haben, wenn er gehen muss. Schon jetzt ist er in einer anderen Welt, lebt im Dazwischen, im Fegefeuer, wo die Dinge des Lebens noch manchmal – wie ein Blitz in finsterster Nacht – aufflackern und den Horizont mit einem Schlag erleuchten. Die Zukunft ist nicht mehr sein Begleiter. Er kennt nur die Vergangenheit in seiner Gegenwart, bis auch das letzte Band zum Leben reißen wird. So fest er kann, hält der alte Mann noch einmal den Brief in seiner Hand.

"Belacqua", flüstert er. "Belacqua", aber niemand hört ihn.

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"Sieben Stunden Angst und 5000 Schüsse", habe ich nach meiner Ankunft in der Zeitung gelesen. Auf der Rückseite: "Das Wort des Jahres: ein tränenlachendes Smiley. Mehr als 20 Prozent unserer Unterhaltung machen Emojicons aus." Wahllos haben Menschen über zehn Minuten in eine Menge gefeuert. Ich versuche wütend zu sein. Doch ich kann nicht um eine Masse trauern, nur um einen Menschen. Trotzdem spiele ich das Spiel der Betroffenheit. Trauermiene, gesenkter Blick. Marionettentheater im Sinne Kleists eben. Im Herzen fürchte ich nur das eigene Sterben – den Tod nicht – "... es sei denn, daß es jenseits des Grabes weitergeht. Aber greifen wir nicht vor, wir wollen zunächst verscheiden, dann werden wir sehen", spricht jemand. Ablenken.

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Mein Schatten über Becketts Grab. In einer halben Stunde werden die Tore für die Nacht geschlossen. Aus der Weite erklingt eine Glocke. Sie läutet über den ganzen Friedhof. Der Wärter ist aus seinem Häuschen getreten und zieht an einem Seil neben dem Eingang. Er erinnert mit dem Glockenschlag die Menschen daran, dass es Zeit ist, zu gehen. Die Toten brauchen die Ruhe, in der kein Leben ihren Frieden stört. Sechs Uhr.

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Ich höre die letzten Glockenschläge und bleibe in diesem Zimmer zurück. Warum bin ich hier? Um zu flüchten? Um diesen Tag des Erinnerns an meine Geburt, der in der Wiederholung nichts bedeutet, zu umgehen? Und doch lade ich ihn jetzt mit Gefühl auf. Vielleicht sollte ich aufhören, mich selbst zu belügen. Es geht zu Ende, und ich kann es jetzt doch sagen. Ich bin nach Paris gereist, um einen Roman über mich selbst zu schreiben. An einem Tag.

Draußen der Wahnsinn

An meinem 30. Geburtstag. Aber das Leben hat mir dazwischengefunkt. Statt mich in meinem Weltschmerz zu suhlen, bricht die Welt auseinander. Was soll ich da noch über mich selbst schreiben? Es regnet. Die Stadt der Lichter und der Liebe ist dunkel – grau. Es ist lächerlich. Ich sollte die Gelegenheit nutzen. Nicht? Hier in die Stadt abtauchen, die Stimmen und Stimmungen einfangen. Schreiben: "In der Seitengasse des Theaters werden die Einschusslöcher mit bunter Kreide markiert, während im Nachbarhaus ein Mädchen im Ton der Unschuld eine Arie singt."

Es ist die Wahrheit, aber falsch – natürlich. Jede Beschreibung stört und zerstört jetzt. Jedes Wort über das Gegenwärtige ein tautologischer Blödsinn. Draußen der Wahnsinn und das in der Sprache nicht Greifbare. Und hier drinnen? Ich. Es ändert nichts, ob ich die Welt oder mich selbst beschreibe. Immer bleibt die Sprache stumm, die Worte sprechen trotzdem. Ich weiß nicht, was für ein Mensch ich in diesem Moment bin. Mein Erzähler hockt irgendwo und spielt mit mir. Mit meiner Stimme, die vielleicht einmal seine war.

Er: ich. Ich: er. Die erste Person – ein Dilemma des Irrsinns, die dritte also – anerkannte Schizophrenie. Mein Schöpfer zieht Stricke und lässt mich tanzen. Ich weiß nichts mehr. Ich komme aus diesem Zimmer nicht hinaus. Egal, ob ich kämpfe oder nicht. Ich stolpere über die Schlaglöcher der Erinnerung, die ich präsentiert bekomme. Ich könnte mir meinen eigenen Reim darauf machen. Sind es meine Geschichten? Mein Leben? Ich weiß nur, es ist mein Geburtstag heute. Wie in jedem Moment, wenn sich die Stimmen erheben. Ablenken.

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"Ich weiß nicht mehr, wann ich gestorben bin. Es schien mir immer, ich sei alt gestorben, um die neunzig Jahre, und was für Jahre, und daß mein Körper es bewies, von Kopf bis Fuß ... Ich werde mir also eine Geschichte erzählen, ich werde also versuchen, mir noch eine Geschichte zu erzählen, um zu versuchen, mich zu beruhigen ... Oder bin ich vielleicht in dieser Geschichte wieder zur Erde hinaufgestiegen, nach meinem Tode. Nein, das sieht mir nicht ähnlich, wieder zur Erde hinaufzusteigen, nach meinem Tode", höre ich eine Stimme sprechen. Ich bleibe im Zimmer zurück, bis die Geschichten wiederkommen. Stille.

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Wer spricht? Wen kümmert’s ...

(Mario Schlembach, ALBUM, 21.12.2019)