Darauf, was überhaupt unter die Definition von Gewalt fällt, wollte sich Claudia Schütz zunächst nicht festlegen. Denn eine inhaltliche Engfassung berge die Gefahr, dass jene Vorfälle, die nicht der exakten Begriffsbestimmung entsprechen, nicht als Gewalt geltend gemacht werden – etwa wenn ein Kind diskriminiert oder gedemütigt wird. Also hat Schütz, die selbst an der Bildungsanstalt für Elementarpädagogik in Salzburg angehende Pädagoginnen ausbildet, den Untersuchungsgegenstand ihrer Bachelorarbeit – es geht um "verborgene Gewalt" im Kindergarten – zu Beginn bewusst offengelassen.

Fall eins: "Ein Kind will keine Sauce über seinen Nudeln. Oft sagen dann Erwachsene: Doch, probiere das einmal! Es gibt folgende Möglichkeiten: Das Kind muss die Nudeln nicht essen und bekommt einen neuen Teller. Oder aber es wird ermahnt, ja aufzuessen. Die schlimmste Variante ist, wenn ihm das Essen in den Mund gestopft wird." – Pädagogin Anke Ballmann
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Weinen verboten

Am Ende kam eine Tabelle mit 14 verschiedenen Kategorien heraus, darunter: Gewalt durch Sprache (neben Schimpfen und Drohen ist hier auch das Bloßstellen eines Kindes gemeint), Gewalt durch Zwang (etwa sitzen zu bleiben, zu schlafen oder zu essen), aber auch Gewalt durch Ignorieren oder das Negieren von Emotionen – etwa wenn ein Kind weint.

Mehr als die Hälfte der befragten Kindergartenpädagoginnen – denn es sind in der Mehrzahl Frauen – haben laut Schütz in ihrem Berufsalltag bereits "gewaltvolle Handlungen" wahrgenommen. Einschränkend muss gesagt werden: Basis der Arbeit sind 231 Online-Fragebögen sowie vier qualitative Interviews mit Pädagoginnen und Kindergartenleiterinnen. Repräsentativ ist das nicht. Zudem wurden ausschließlich Pädagoginnen befragt. Ob das ein Mitgrund ist, warum gewalttätige Handlungen vor allem bei Assistentinnen ausgemacht werden? Fest steht: Die Arbeit von Schütz wirft erstmals Licht in ein noch wenig ausgeleuchtetes Eck. Das Bildungsministerium erkennt jedenfalls Handlungsbedarf: Gemeinsam mit den Pädagogischen Hochschulen arbeite man an einem Konzept.

In Deutschland sieht Anke Ballmann genauer hin. Die Pädagogin hat nach eigenen Angaben seit mehr als zehn Jahren rund 500 verschiedene Kitas als Fortbildnerin und Coach besucht und dabei "gefragt, ob jemand schon selbst Gewalt angewandt hat oder dies schon einmal beobachtet hat". Die Antworten, festgehalten im Buch Seelenprügel. Was Kindern in Kitas wirklich passiert, waren ernüchternd: Alle hätten dies zumindest schon gesehen.

Fall zwei: "Das Puzzle als Strafe, das wird ganz oft verwendet. Da wird einem Vierjährigen ein Puzzle für Siebenjährige hingelegt, wissend, dass ihn das überfordert. Aufstehen darf er erst, wenn er damit fertig ist." – Pädagogin Claudia Schütz
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Konsequenz heißt Strafe

Das Hauptproblem sei psychische Gewalt. Die moderne Umschreibung von "Strafe" heiße dann "Konsequenz": "Es werden Kinder vor die Tür gesetzt oder, noch schlimmer, sie werden alleine in Schlafräume geschickt. Das sogenannte ,Strafe sitzen‘ hat immer noch Hochkonjunktur." Dabei wisse man aus Untersuchungen, dass Isolation Menschen schadet.

Zurück zu Schütz und den österreichischen Kindergärten. Hier komme es auch zu körperlicher Gewalt. Das reicht von fest anpacken oder unsanft niedersetzen bis hin zu anurinierter Kleidung, die strafweise anbehalten werden muss. Mindestens so bedenklich wie die Handlungen sei aber der Umgang mit diesen, wenn einmal jemand die Courage hat, das Fehlverhalten anzusprechen: "Oft wird das zunichtegeredet", weiß Schütz. Dabei ist sie überzeugt, "dass keine Pädagogin das absichtlich macht." Es lohne sich jedenfalls, die Ursachen für gewaltvolle Interaktionen in elementarpädagogischen Einrichtungen weiterzuerforschen – so, wie sie es für ihre Masterarbeit vorhat. Bis dahin könne nur gemutmaßt werden, wie viel aus Überforderung, wie viel aus Unwissen beziehungsweise mangelnder Reflexion geschieht.

Zu wenige für zu viel Arbeit

Für Rafaela Keller, die Vorsitzende des Berufsverbands für Kindergarten- und HortpädagogInnen, ist bereits klar, wo anzusetzen ist: Es brauche "Entlastung durch multiprofessionelle Teams, Kampagnen für Einsteigerinnen und deutlich weniger administrative Aufgaben." Die Folge wäre wohl, dass mit den passenden Rahmenbedingungen auch die Auswahl an Pädagoginnen wieder größer wäre.

Alles auf strukturelle Probleme zu schieben sei aber zu einfach, sagt Pädagogin Ballmann. Fest stehe: "In Deutschland mangelt es an Personal. Zu wenige Erzieherinnen betreuen viel zu viele Kinder. Dadurch stehen die Einzelnen unter Druck. Und wer Druck verspürt, reagiert schneller unwirsch." Aber obwohl die Rahmenbedingungen oft katastrophal seien, "haben wir sehr gute Kräfte, die tolle Arbeit leisten. Die ,faulen Äpfel‘ sind die Ausnahmen. Nur findet man sie in fast jedem Team." Und die hätten oft ein persönliches Thema: "Das hat nichts mehr mit der Struktur zu tun."

Fall drei: "Oft wird Kindern der Schlaf verwehrt. Da heißt es: Alle Kinder schlafen um 12.30 Uhr! Manchmal ist eines aber schon vorher so müde, dass es fast in den Teller mit dem Mittagessen kippt." – Pädagogin Claudia Schütz
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Gewalt bleibt oft verborgen

Wie erfahre ich überhaupt, was meine Tochter, mein Sohn in Krippe oder Kindergarten erlebt? "Die Kinder merken mitunter gar nicht, dass Gewalt an ihnen geschieht", glaubt Schütz. Oft komme hinzu, dass sich die Kleinen nicht ausreichend mitteilen können. Wenn ein Kind aber plötzlich Schlafstörungen hat, einnässt oder schreit, könnten das erste Hinweise darauf sein, dass etwas nicht stimmt. "Bei Verhaltensänderungen würde ich genau hinschauen", rät auch die deutsche Pädagogin.

Für Schütz steht fest: "Es braucht Zeit – und zwar nicht nur, um das nächste Laternenfest zu planen. Es braucht Zeit, um über diese Themen zu sprechen." In Teamsitzungen solle man sich anschauen, ob es in der eigenen Einrichtung Zwänge gibt, die unhinterfragt als Regeln festgeschrieben sind. Außerdem brauche es dringend eine Stelle, an die sich jene, die gewaltvolle Handlungen beobachten, wenden können. "Es gehört eine Fehlerfreundlichkeit etabliert. Dann geht es nicht ums Verpfeifen, sondern um ein gegenseitiges Unterstützen, um besser zu werden", sagt Ballmann. Sie spricht sich für Eignungstests aus. Nicht jeder sei für diesen Beruf gemacht. (Peter Mayr, Karin Riss, 21.12.2019)