Für den Wahlkämpfer Sebastian Kurz war es eine nützliche Polemik: Wie lächerlich die Vorwürfe seiner Gegner doch seien! Ja, im Wahlkampf 2017 hat er gesagt, er komme aus Wien-Meidling. 2019 betonte er seine ursprüngliche Beheimatung in einer Gemeinde im Waldviertel. Kurz passe seine Herkunft je nach politischem Nutzen an, lautete der Vorwurf an ihn. Kurz parierte genüsslich: "Das ist der wirklich große Skandal: Ich fühle mich sogar an beiden Orten zu Hause."

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"Mit hunderttausenden anderen Menschen auf möglichst engem Raum zusammenzuleben, das muss man wollen. Doch wer der Typ dafür ist, liebt genau das."
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Der rhetorische Trick ging auf, der ÖVP-Chef wälzte ihn in Interviews aus, lüftete das Geheimnis, er komme "nicht vom Mars", schmunzelte, es sei ja ganz einfach: Man könne ja an zwei Orten zu Hause sein, ganz selbstverständlich. Aus jeder Kleinigkeit versuche der politische Mitbewerber mittlerweile, einen Aufreger zu fabrizieren.

Nun ist das Umdeuten seiner persönlichen Herkunft je nach Stimmungslage kein Skandal. Es sagt aber viel über das Verhältnis von Stadt und Land in Österreich aus. Denn so viele Menschen, wie hier einmal auf dem Land und einmal in der Stadt ihre Wurzeln geschlagen haben, so viele Beziehungen zu diesen zwei Welten gibt es. Das ist vieles, aber nicht einfach.

Wovor Menschen fliehen

Wer hat schon dieses entspannte Verhältnis zu diesen zwei Polen, wie Kurz es vorgibt zu haben? Wie viele leben nur durch die Umstände gezwungen in der Stadt oder auf dem Land, des Jobs, der Ausbildung, der Beziehung wegen, und sehnen die nächste Gelegenheit herbei, am jeweils anderen Ort zu sein – am Wochenende, nächstes Jahr, in der Pension?

Und wie viele haben so eine Minimigration hinter sich, sind froh darüber, fühlen sich endlich angekommen, egal ob "draußen" oder "drinnen" – empfinden aber schlagartig ein beklemmendes Fremdeln, wenn sie an diesen Tagen des Jahres in ihre alte Heimat fahren, um mit der Familie Weihnachten zu feiern?

"Stadtflucht", "Landflucht". Diese Worte klingen übertrieben drastisch, und das nicht erst, seit Menschen, die in ihrer Heimat wegen unfairer Handelsbeziehungen und Naturkatastrophen vor dem Nichts stehen und nach Europa kommen, als gierige Wirtschaftsmigranten dargestellt werden, und sogar solche, die vor Bomben und Verfolgung fliehen, angefeindet werden.

Doch die Rede von der Flucht verdeutlicht, wie stark ein Push-Faktor auch innerhalb eines hochprivilegierten Landes wie Österreich wirken kann: wenn Menschen es in der Stadt, mit der Straße vor der Tür, der Anonymität, dem Lärm und der Geschäftigkeit nicht mehr aushalten – oder wenn sie den ausgestorbenen Ortskern am Freitagabend, das Pendeln zum Arbeitsplatz, das Jeder-kennt-jeden satthaben.

Stadtmenschen und Landmenschen

Gleichzeitig fühlen sich viele Leute wohl, wo sie sind, und verschwenden keinen Gedanken daran, anderswo zu leben. Sind das Glückliche, die schlicht immer schon am richtigen Ort zu Hause waren?

Denn es ist doch so: Die meisten von uns sind Stadtmenschen oder Landmenschen.

Mit hunderttausenden oder gar Millionen anderen Menschen auf möglichst engem Raum zusammenzuleben, das muss man wollen. Doch wer der Typ dafür ist, liebt genau das – die vielen Menschen, bunt durchmischt und der daraus entstehende Überfluss an kulturellem, kommerziellem und kulinarischem Angebot. Die Unabhängigkeit, die die dichte Versorgung mit Dienstleistungen mit sich bringt, von der U-Bahn über den Essensboten bis zur Yogastunde – und dass irgendwo immer irgendetwas los ist.

Umgekehrt wird kein Landmensch den Wald vor der Tür missen wollen, die Ruhe, das Vogelgezwitscher, und dass man nicht nur den Nachbarn, sondern die meisten Dorfbewohner kennt. Dass die eigenen Kinder nicht mit Beton unter den Füßen aufwachsen, sondern einen Bezug zur Natur aufbauen. Soziale Treffpunkte sind etabliert und organisiert, Kirtag, Pfarrcafé, Wirtshaus. Seit Gemeinden Konzepte entwickeln, um ihre Ortskerne wiederzubeleben, erleben auch viele dieser kleinen Zentren ein Revival. Und auch die Politik im Großen wird nie auf die Landbevölkerung vergessen, lebt doch der größte Teil der Wähler genau dort.

Nicht grundlos hat sich Sebastian Kurz im Wahlkampf plötzlich an seine Kindheit im Waldviertel erinnert – um wenig später auf den Wiener Moloch zu schimpfen, in dem immer mehr Frauen Burka trügen und die Kinder oft die Einzigen seien, die in der Früh aufstehen.

Wachsende Kluft

Der Wahlkämpfer Kurz nutzte eine vorhandene Polarisierung im Land und einen gewissen Argwohn, den viele Stadt- und Landbewohner gegeneinander hegen. Seine politischen Gegner warfen ihm vor, er befeuere das noch, aus Kalkül, denn die Wahlen gewinnt die Volkspartei auf dem Land.

Allerdings: Wie bei vielen Themen kann man auch bei diesem von einer Mehrheit ausgehen, die eine Stadt-Land-Diskussion emotional nicht aus der Ruhe bringt. Das Gerede vom gespaltenen Land, von unversöhnlichen Extremen und der immer größer werdenden Polarisierung geht leicht von den Lippen, trifft aber nicht zwingend zu. Natürlich ziehen Menschen über Caffè-Latte-schlürfende Städter oder einfach gestrickte Landeier her – doch das war schon immer so. Und wird wohl auch weiterhin so sein, solange sich Stadt und Land in einem gemeinsamen Staat zusammenraufen müssen, gleichzeitig aber von der Politik auseinanderdividiert werden.

Es ist nicht zu leugnen, dass die Städte immer städtischer werden und das Land immer ländlicher wird. Der Bevölkerungszuwachs findet in den Ballungszentren statt, kleine Gemeinden bleiben klein oder werden kleiner. Damit werden auch die jeweiligen Merkmale stärker ausgeprägt: Was dicht ist, wird dichter, Dünnes dünnt weiter aus. Beides bringt Herausforderungen mit sich – und lässt die Kluft zwischen den Gegenden wachsen. Gut so!

So paradox es klingen mag: Zeitgleich wachsen Stadt und Land enger zusammen. Immer weniger Kinder wachsen in Familien auf, in denen ein Wechsel zwischen Stadt und Land als undenkbar gilt. Das Kind will in die Stadt, das Kind will aufs Land? Das mag für Diskussionen am Küchentisch sorgen. Doch sie werden seltener.

Und die große Stadt ist dank besserer Verkehrsanbindungen für immer weniger Landbewohner weit weg, das grüne Land für keinen Städter außer Reichweite. Immer mehr Menschen können dort leben, wo sie wollen – oder auch nur für ein Wochenende die Welt wechseln.

Ein Luxusproblem

Das ist ein tröstlicher Gedanke: Stadt und Land unterscheiden sich immer mehr voneinander, ihre Bewohner kommen aber immer besser zum Reden zusammen. Das darf allen ein bisschen inneren Frieden bescheren, die beim weihnachtlichen Weltenwechsel diese eigenartige Unruhe beschleicht.

Wie viele gesellschaftliche Herausforderungen in Österreich ist die Verwurzelung in Stadt oder Land ein Luxusproblem. Dafür muss man nicht einmal an die Menschen denken, die gerne in ihrer Heimat außerhalb Österreichs leben würden, das jedoch nicht mehr können, und ein ganz anderes Gefühl von Fremde erleben. Auch das kann in Diskussionen beim Abendessen eingeworfen werden, wenn vielleicht die städtische Welt auf die ländliche prallt. (Sebastian Fellner, 21.12.2019)