Im Gastkommentar zeigt der US-Ökonom Jeffrey D. Sachs die Probleme des Mehrheitswahlrechts auf. Die oft gelobte Stabilität sei illusorisch. Robert Skidelsky widmet sich der Frage, wie die Tories zur Partei der "nationalen Einheit" werden können.

In der wichtigsten Frage der modernen Geschichte des Vereinigten Königreichs – ob das Land die Europäische Union verlassen solle oder nicht – hat das britische Wahlsystem ein absurdes Ergebnis hervorgebracht. Eine Mehrheit der britischen Bevölkerung will in der EU bleiben und hat bei der Parlamentswahl auch entsprechend abgestimmt. Doch brachte die Wahl eine große Mehrheit für die konservative Partei der Tories hervor, die einen raschen Brexit unterstützt. Der Grund dafür ist so simpel wie verstörend: Das Mehrheitswahlrecht setzt die Stimmung in der Bevölkerung nicht in einigermaßen repräsentative Ergebnisse um.

Illustration: Felix Grütsch

Simples Beispiel

Man stelle sich als simples Beispiel vor, dass es drei Parteien gibt: zwei Parteien für den Verbleib und eine Austrittspartei. Man nehme weiterhin an, dass in jedem Wahlkreis 66 Prozent der Bevölkerung in der EU verbleiben und 34 Prozent austreten wollen, wobei die für einen Verbleib eintretenden Wähler zu gleichen Teilen die beiden Verbleibsparteien unterstützen. Diese erhalten daher in jedem Wahlkreis 33 Prozent der Stimmen, während die Austrittspartei den Wahlkreis mit 34 Prozent der Stimmen gewinnt. Beim selben Ergebnis in allen Wahlkreisen gewinnt die Austrittspartei mit 34 Prozent der landesweit abgegebenen Stimmen 100 Prozent der Sitze. In einem landesweiten Verhältniswahlrechtssystem würden die Verbleibsparteien 66 Prozent der Sitze erringen und eine Regierung bilden.

Natürlich ist die tatsächliche Situation im Vereinigten Königreich nuancierter. Von elf Parteien warben acht – Labour, die Scottish National Party, die Liberaldemokraten, Sinn Féin, Plaid Cymru, die SDLP, die Grünen und die Alliance Party – entweder für ein zweites Brexit-Referendum oder für den Verbleib in der EU. Drei warben für einen Brexit ohne zweites Referendum: die Konservativen, die Democratic Unionist Party und die Brexit Party.

Corbyn spaltete Brexit-Gegner

Insgesamt erhielten diese elf Parteien 98,6 Prozent der Stimmen; die verbleibenden 1,4 Prozent entfielen auf dutzende Splitterparteien. Die acht Parteien, die für einen EU-Verbleib oder ein zweites Referendum eintraten, erhielten 52,2 Prozent der Stimmen, während die drei Parteien, die für einen Brexit ohne zweites Referendum eintraten, 46,4 Prozent erhielten. Doch erreichten die drei Pro-Brexit-Parteien 373 Sitze, verglichen mit lediglich 277 Sitzen, die an die Parteien gingen, die in der EU bleiben oder ein zweites Referendum abhalten wollten.

Es gibt zwei Gründe für dieses Ergebnis. Erstens konzentrierten sich die Stimmen für den Brexit fast völlig in einer Partei, den Konservativen, die 94 Prozent aller Pro-Brexit-Stimmen erhielten. Labour erhielt nur 61 Prozent der auf die acht Brexit-feindlichen oder ein zweites Referendum fordernden Parteien entfallenden Stimmen. Premier Boris Johnson einte die Brexit-Befürworter. Der Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn spaltete die Brexit-Gegner.

Verschenkte Stimmen

Der zweite Grund ist, dass beim Mehrheitswahlrecht die überwältigenden Mehrheiten (von 70 Prozent oder mehr), die die Brexit-Gegner in einigen Wahlkreisen – zum Beispiel in London und in Schottland – erzielten, letztlich verschenkte Stimmen darstellen; die Partei gewann damit trotzdem lediglich einen Sitz. Beim Verhältniswahlrecht würden diese Stimmen der Partei auf landesweiter Ebene gutgeschrieben.

Das Vereinigte Königreich ist eine nur einer Handvoll einkommensstarker Demokratien – die USA und Kanada gehören auch dazu – mit Mehrheitswahlrecht. Gäbe es wie fast überall in Kontinentaleuropa ein landesweites Verhältniswahlrecht, ginge die Richtung dort jetzt hin zu einem zweiten Brexit-Referendum und zum Verbleib in der EU. Die Wahlergebnisse hätten eine Koalitionsregierung aus mehreren Parteien hervorgebracht, die sich gegen einen schnellen Brexit ausgesprochen hätte.

Ein weiteres eklatantes Problem, das sich weniger schnell lösen ließe, ist, dass die jungen Leute mit überwältigender Mehrheit in der EU bleiben wollen, während die älteren austreten wollen. Die älteren Wähler zwingen den jungen Menschen eine Zukunft auf, die sie nicht wollen, aber mit deren Folgen sie vermutlich für den Rest ihres Lebens zurechtkommen müssen.

Illusorische Stabilität

Das Mehrheitswahlrecht wird dafür gelobt, dass es für Stabilität sorgt, indem es Zweiparteiensysteme oder weitgehende Zweiparteiensysteme hervorbringt. Die beiden großen britischen Parteien erhielten 76 Prozent der Stimmen und nehmen im Parlament 87 Prozent der Sitze ein. Doch die Stabilität ist illusorisch. Ihr Preis ist eine Regierung, in der eine Minderheit mit den Interessen und Präferenzen von mehr als der Hälfte der Bevölkerung Schlitten fahren kann. Wenn das passiert, ist das Ergebnis eine politische Polarisierung der Gesellschaft.

In Kontinentaleuropa sind die meisten Regierungen das Ergebnis von Koalitionen aus mehreren Parteien. Die Regierungsbildung kann schwierig sein, sie sind manchmal nur mühsam aufrechtzuerhalten und agieren langsam. Doch der Prozess der Koalitionsbildung verhindert, dass eine Minderheit gegen die Wünsche eines großen Teils der Bevölkerung durchregiert.

Beispiel USA

Noch gefährlicher ist die Lage in den USA, wo die Präsidentschaftswahlen eine mächtige Exekutive ins Amt bringen, die ein Zweiparteienparlament dominiert. Dies ist gleich in dreifacher Hinsicht problematisch. Erstens repräsentieren die beiden Parteien die öffentliche Meinung nur schlecht, was nicht zuletzt an der Wahlkampffinanzierung bei den Kongresswahlen durch Plutokraten liegt. Zweitens liegt die Exekutivgewalt in den Händen einer einzigen Person. Und drittens kann der Präsident aufgrund der Eigenheiten des Wahlgremiums mit weniger Stimmen gewinnen, als sein Gegner sie erzielt hat – was bei den letzten fünf Präsidentschaftswahlen zweimal vorgekommen ist. Donald Trump erhielt 2016 57 Prozent der Delegiertenstimmen, obwohl er 2,8 Millionen Stimmen weniger hatte als Hillary Clinton.

Wie die Wahl im Vereinigten Königreich nun bestätigt, sind die beiden wichtigsten angelsächsischen Demokratien im Scheitern begriffen. Doch ist der Grund hierfür nicht allein eine polarisierte Wählerschaft; es liegt auch mit am Mehrheitswahlrecht, das Regierungen hervorbringt, die die Stimmung in der Bevölkerung nur unzureichend wiedergeben. (Jeffrey D. Sachs, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 22.12.2019)