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Auch manch ein Weihnachtsmann hat das dringende Bedürfnis, sich in diesem Outfit sofort der Social-Media-Community zu zeigen.

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Mit den sozialen Medien kehrt in viele feiertägliche Wohnzimmer scheinbare Stille ein. Denn wer im virtuellen Dauerkontakt mit seinen "friends" auf Whatsapp, Instagram und Co verbunden ist, kann sich elegant aus dem familiären Hier und Jetzt mit all seinen Begleiterscheinungen ausklinken. Man erfüllt still die Anwesenheitspflicht und ist dennoch dort, wo man sein will. Was für jüngere Familienmitglieder einen optimalen Zustand beschreibt, ist für viele Eltern ein fortgesetztes Ärgernis. Also einfach ein Handyverbot aussprechen, um die Aufmerksamkeit auf die real Versammelten zu lenken? Das würde vermutlich passiven Widerstand auslösen. Was also tun?

"Inzwischen versuchen immer mehr Familien das Konzept der Quality-Time in ihr gemeinsames Leben einzuführen", erklärt die Kommunikationswissenschafterin Christine Lohmeier von der Universität Salzburg. "Man legt gemeinsam mit allen Familienmitgliedern medienfreie Zeiten fest, um überhaupt einen intensiveren Austausch innerhalb der Familie zu ermöglichen." Ob dieses neue Qualitätsbewusstsein auch vom Nachwuchs goutiert wird, sei natürlich eine Frage des Alters. "Das Zusammenleben mit Jugendlichen ist mit und ohne soziale Medien eine Herausforderung, aber die Jüngeren genießen die ungestörte Aufmerksamkeit der Eltern zweifellos."

Die Kluft zwischen den Digital Natives und den Digital Immigrants dürfte sich so leicht aber nicht schließen lassen. Selbst wenn die nicht mehr ganz Jungen in die digitale Welt die besten Vorsätze zur totalen Assimilation mitbringen, hecheln sie letztlich doch immer nur hintennach. "Während sich die Älteren inzwischen an Facebook gewöhnt haben, sind die Jungen längst von dort in Richtung Instagram und Snapchat etc. verschwunden", berichtet Christine Lohmeier von einem altbekannten Nutzungsverhalten. "Häufig verpassen sich die Generationen auf der digitalen Ebene – vielleicht zum Bedauern der Eltern und Großeltern und zur Erleichterung der Jungen."

Geänderte Erinnerungskultur

Soziale Medien verändern nicht nur das Kommunikationsverhalten in den Familien, sondern auch die familiäre Erinnerungskultur. So werden zum einen die geteilten Erinnerungen weniger, weil es schlicht nicht mehr so viele gemeinsame Aktivitäten gibt. Zum anderen verwaltet heute jedes Familienmitglied seinen Erinnerungsschatz auf dem eigenen Endgerät. "Dadurch findet kaum noch ein gemeinsames Erinnern wie früher etwa bei Diaabenden oder Familienfilmvorführungen statt", so die Wissenschafterin.

Außerdem ist das Aufbewahren von Bildern, Videos oder Nachrichten bei neueren Diensten wie Snapchat auch gar nicht mehr möglich und gewollt. Die Inhalte sind nur ein paar Sekunden sichtbar, bevor sie automatisch wieder gelöscht werden. Dieses "Instant Messaging" fördere nicht nur das schnelle Vergessen, sondern auch die Oberflächlichkeit der Kommunikation, ist Lohmeier überzeugt. "Andererseits helfen soziale Medien, den Familienkontakt zu halten, auch wenn die Mitglieder auf der ganzen Welt verstreut leben."

Digitale Einheimische

Während vor nicht allzu langer Zeit hauptsächlich die Frauen das Familiengedächtnis gehütet haben, übernehmen heute verstärkt die sozialen Medien selbst diese Erinnerungsarbeit. "Inzwischen sind es Algorithmen, die an bestimmten Jahrestagen die passenden Fotos aus dem Fundus heraussuchen und an ein Ereignis erinnern." Was sich zum Positiven verändert habe, sei vor allem das Gender-Gleichgewicht in der Mediennutzung. "Früher waren meist die Männer für Kamera und Co zuständig, heute gibt es zwischen Frauen und Männern keine Unterschiede mehr im Ausmaß der Mediennutzung."

Wobei es gravierende Unterschiede gibt, ist allerdings die Medienkompetenz von "Natives" und "Immigrants". "Um kritische Fragen etwa zum Datenschutz kümmert sich eher die Elterngeneration", weiß Lohmeier. "Für die Jungen sind soziale Medien etwas so Selbstverständliches, dass sie sich kaum mit Grundsatzfragen auseinandersetzen."

Motorische Hyperaktivität

So sind es auch die "Immigrants", die sich wegen der physischen, psychischen, geistigen und sozialen Auswirkungen des wachsenden digitalen Medienkonsums Sorgen machen. Und das nicht zu Unrecht, wie eine Reihe wissenschaftlicher Studien in den letzten Jahren belegt hat. So beobachteten Ärzte etwa im Rahmen der deutschen Blikk-Studie bei Kindern, die intensiv digitale Medien nutzen, vermehrt Sprachentwicklungsstörungen und motorische Hyperaktivität.

Auch der Neurowissenschafter und Psychiater Manfred Spitzer warnt seit Jahren vor den Folgen einer unkontrollierten Digitalisierung für Kinder und Jugendliche. Weil das geistige Begreifen der Welt durch das sensomotorische Begreifen realer Dinge gefördert werde, sei es mit dem Lernen auf einen Wisch schlecht bestellt.

Vor allem bei Jugendlichen nehme die Social-Media-Sucht, die inzwischen von der Weltgesundheitsorganisation als Krankheit anerkannt wurde, stark zu. Neben persönlichen Problemen für die Betroffenen wie Schlaflosigkeit, erhöhte Anfälligkeit für Depressionen, Aggressivität und Übergewicht ortet der Psychiater auch für die Gesellschaft negative Auswirkungen. Denn als allwissender und jederzeit verfügbarer Ratgeber mache das Smartphone Kontakte zu Unbekannten immer unnötiger, wodurch generell das Vertrauen in Fremde sinke.

Konsum vs. Kreativität

Ob sich bei maßvoller Mediennutzung nicht auch ein paar positive Effekte neben dem In-Verbindung- und Auf-dem-Laufenden-Bleiben finden lassen? "Ursprünglich hatten die sozialen Medien den Anspruch, Menschen in ihrer Kreativität zu verbinden", berichtet Christine Lohmeier. "Inzwischen zeigt sich aber, dass nur die wenigsten Selbstgeschaffenes posten – der Großteil konsumiert Inhalte."

Regeln können helfen. "In den USA setzen sich vor allem gebildetere und einkommensstärkere Eltern für eine reduzierte Social-Media-Nutzung ihrer Kinder ein", erzählt Lohmeier. "Reverse digital divide" wird dieser Trend genannt, dessen Vertreter die Benachteiligung von Menschen nicht mehr in ihrem gehemmten Zugang zu digitalen Medien sehen, sondern vielmehr in deren ungehemmter Nutzung. (Doris Griesser, 23.12.2019)