Es gibt den Schnelltest, um herauszufinden, in welchem Verhältnis man sich zum Thema Weihnachtsfest im Kreis der Familie befindet. Es ist derselbe, den Marie Kondo beim Ausmisten von Kleidung empfiehlt. Fühlt sich der Gedanke an den Heiligen Abend mit allen möglichen Beteiligten uneingeschränkt gut an – oder etwa nicht? Wie zwei Schablonen kann man im Geiste das Wunschbild von einem schönen Fest und dem, wie es genau mit diesen Leuten wohl wirklich abläuft, übereinanderlegen. Da, wo es Abweichungen gibt, setzt man an.

Mit ein paar Tricks und ein wenig Aufmerksamkeit ist ein Fest hinzubekommen, bei dem nicht nur die jährliche Geburt der maximalen Aggression gefeiert wird. Nach dem man sich dann dafür geißelt, dass man es wieder nicht geschafft hat, zu Weihnachten einfach nicht im Land zu sein. Es gibt sie, die Möglichkeit eines Festes in Liebe, abseits eines groß inszenierten Schauspiels. Allerwichtigster Tipp: die Erwartungen auf null drosseln.

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Geplante Idylle: Das Christkind wird läuten, der Weihnachtsbaum erstrahlen, Opa sein "Oh, wie lacht ..." schmettern (während die Kinder fragen, wer denn dieser Owi ist).
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1. Die Einladungspolitik

Die beginnt damit, dass der Heilige Abend mehrere Tage umfassen darf. Lobbyiert man dafür halbwegs geschickt in der Familie, dann wird die Entscheidung leichter, ob man miteinander in einer Patchworkkonstellation feiern möchte oder lieber getrennt. Wichtig dabei ist, das möglichst früh zu kommunizieren und dabei immer wieder weitgehend ungepresst den Satz "Du sollst es ja auch schön haben!" von sich zu geben. Auch Experten raten davon ab, das gemeinsame Feiern von getrennten Elternpaaren mit den gemeinsamen Kindern als höchstes Gut zu betrachten. Ebenfalls keine gute Idee ist, just am Weihnachtsabend einen neuen Partner vorzustellen. Es bringt an so einem markanten Tag wie dem Heiligen Abend die Familienaufstellung endgültig aus dem Gefüge, also den Zustand, in dem ohnehin schon alle recht gebeugt herumstehen. So gibt es die Geschichte, der zufolge sich der Ex-Partner die kompliziertesten Gerichte überlegte, die er kochte, damit er möglichst abseits vom Geschehen in der Küche bleiben und aus dem Fenster hinausrauchen konnte, während die neue Freundin paralysiert im Wohnzimmer saß und der Ex-Frau und deren Mutter bei tuscheln zusah. Das Kind hatte genau gar nichts vom Papa, der sich den ganzen Abend ausschließlich auf die zwei Flaschen Wein freute, die er sich später in den Hals leeren konnte, gleich nachdem er seine verstörte Freundin nach Hause gebracht hatte.

Ziel muss es also sein, dass man mit ein oder zwei Abendfeiern und vielleicht einem Mittagessen alle zufriedenstellt. Aber Achtung: Wird man selber wohin verplant, wo man nicht sein möchte, da gibt es nur eines – Zähne und Klauen. Und: Sollte jemandem ein Dresscode wichtig sein, das wäre auch rechtzeitig anzusagen. Dann gibt es weniger Jogginghosen neben dem Frack auf dem Weihnachtsfoto.

2. Der Ablauf

Entschließt man sich für eine gemeinsame Feier am Heiligen Abend, dann lässt man die Person den Ablauf bestimmen, die einlädt. So wird sie nicht wahnsinnig, weil ihr jeder sagt, was nun kommen sollte. Wenn kleinere Kinder involviert sind, ist es vielleicht eine gute Idee, sich irgendwo ein Krippenspiel herauszusuchen, als Treffpunkt für alle. Und während die Familie so beschäftigt ist, bestellt man derweil das Lieblingsfamilienmitglied zu sich. Gemeinsam wird Christkind gespielt und die letzten Vorbereitungen rund um den Baum und das Essen getroffen. Bei der Gelegenheit kann man ruhig schon den Tischwein kosten. Danach Yoga. Oder Boxen. Alles, was ruhig macht.

Wenn die Familie dann anläutet, hat man sich in Demut dem Schicksal zu ergeben. Denn nun ist die Sache gelaufen. Es geschieht, was geschehen muss. Mit sanfter Stimme erklärt man jedem einzeln, was nun der Plan ist. Den Omas und Opas vielleicht zweimal. Der Großtante Trude dreimal. Die neue Partnerin des Ex-Mannes fragt man verlegen, ob das so eh okay ist für sie. Das Christkind wird läuten, der Weihnachtsbaum wird erstrahlen, es werden Lieder gesungen, in einer festgelegten Reihenfolge, damit nicht wieder Großtante Trude Ihr Kinderlein kommet anstimmt, während Opa noch Oh, wie lacht ... schmettert (und die Kinder wie jedes Jahr fragen, wer denn Owi ist). Die katholische Oma darf die Bibelstelle "Und es begab sich ..." vorlesen. Den Kindern wird der Zeigefinger aus der Nase geholt. Danach erfreut man sich so gut es geht an dem erstaunlich guten Klavierspiel der neuen Freundin des Ex-Partners, deren Etüden niemals zu enden scheinen, und ignoriert den Impuls, mal wieder den Flohwalzer zu spielen.

3. Geschenke

Selbstverständlich hat man Mitte August alle Geschenke gehabt. Die Kinder haben am ersten Adventsonntag noch einen Brief ans Christkind geschrieben. Selbiges hat die Posten 1–5 gestrichen, die da wären Hard- und Software verschiedenster Zueignungen wie Gaming, Smartphoning, Irgendwas-Hauptsache-Bildschirming im Wert von etwa 5000 Euro. Danach wurde eine Liste mit geeigneten Geschenken erstellt. Die hat man dann an die Verwandten delegiert. Für sich selber hat man Schuhe bestellt, die man nicht gebraucht hätte. Am 20. 12. kommt man drauf, dass man doch keine Geschenke besorgt hat, und schafft dann den jährlichen Einkaufsmarathonrekord. Hauptsache, kein Amazon (schade!). Niemals sollte man übrigens darauf reinfallen, wenn ausgemacht wird, man schenkt sich nichts. Dann sitzt man gelackmeiert vor der "Kleinigkeit", die ja nicht der Rede wert gewesen sei. Gut ist es, ein, zwei Geschenke in petto zu haben, falls der Fall eintritt. Ich habe so schon etwa zwanzigmal Die Tante Jolesch verschenkt, einmal an meinen damals vierjährigen Neffen, mit der Erklärung, das sei für seine Bibliotheksgründung.

Am Heiligen Abend wird eine Höchstleistung erbracht. Geschenke werden ausgepackt, über die man sich ausnahmslos freut. Immer. Auch über Omas 50 tiefgefrorene Leberknödel für den Notfall. Sollten kleine Kinder dabei sein, ist intensiv zu kommunizieren, ob sie noch ans Christkind glauben. Man darf der neuen Freundin des Ex-Partners einen Schnalzer auf den Hinterkopf geben, wenn sie zum Sohn sagt: "Echt jetzt, mit neun?" Ebenso kann man Großtante Trude ins Nebenzimmer schleifen, wenn sie ruft: "Wer hat denn dieses sauteure Kinderspielzeug gekauft, das ist ja noch dazu aus China!" Überhaupt hat man in dieser Phase des Abends parallel mehrere Emotionsstränge auszuhalten. Einerseits freut man sich vielleicht, wenn die Kinder die Spielsachen gut finden. Andererseits ärgert man sich, dass der Ex-Partner gegen die Abmachung doch eine Spielkonsole verschenkt hat. Gleichzeitig hält man die Vase in Händen, die man Tante Trude im Vorjahr geschenkt hat, genau die, die man von Oma 1 vor zwei Jahren zum Geburtstag bekommen hat. Man lacht fröhlich auf über den unglaublichen Zufall, dass man nun dasselbe schöne Stück noch einmal bekommen hat, haha, so ein Glück. Man sagt nichts dazu, das die neue Freundin vom Ex den Kindern das White Album der Beatles mitgebracht hat. So eine coole Idee. Verdammt. Freude über den scheußlichen Schal vom Ex simuliert man, in dem man den Schenker schnell umarmt. Umgekehrt ist zu vermeiden, dass man sich über ein anderes Geschenk übermäßig freut. Durchs Zimmer tanzt, das Geschenk immer wieder in die Höhe stemmt und dabei Amazing Grace singt. Das nimmt einem Großtante Trude, die mit der Vase, übel. Danach ignoriert man die wunderschöne Brosche und die Goethe-Originalausgabe, die die neue Freundin vom Ex bekommen hat. Man hat neue Schuhe.

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Selbstverständlich hat man alle Geschenke schon im August gehabt. Äh, Lüge. Natürlich hetzt man am 24. los und vergisst dabei das Geschenk für den Sohn der Neuen des Ex.
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4. Das Festmahl

Vorlieben sind zu beachten wie Allergien oder Essensgewohnheiten, etwa vegane Ernährung ja oder nein. Die Idee, gemeinsam zu kochen, ist schnell fallenzulassen, viele Köche, Brei, wir wissen. Man endet vom Menü her also bei Sojatruthahn oder Raclette, wo sich einfach jeder nimmt, was er mag. Wichtig ist, vorher zu bestimmen, wer was für die Festtafel mitbringt.

Folgende Gesprächsthemen bei Tisch sind zu vermeiden: Vergangenheit und Zukunft des engeren familiären Bereichs, Politik, Geld, schon gar nicht Schulden. Wenn getrennt gefeiert wird, darf man nie, niemals eine abfällige Bemerkung über den abwesenden Elternteil machen. Man kramt sich am besten hervor, was die Kinder an dem Menschen lieben. Das genügt, um die nötige Achtung aufzubringen. Als Gesprächsthemen eignen sich aber sehr wohl: Katzenbilder, das Wetter. Der schiefe Gesang der Jungschar beim Krippenspiel. Gmundner Porzellan. Der Rosengarten der Nachbarin. Youtube. Schuhe. Man sollte dafür sorgen, dass Großtante Trude nicht bei jedem Bissen ausruft, wie viel Kalorien der jetzt hat. Man versichert den beiden Omas, die jeweils ihr berühmtes Mangochutney mitgebracht haben, separat, dass ihr jeweiliges das Beste ist.

5. Deeskalationsmethoden

Es gibt im Drogeriemarkt leichte Beruhigungspillen, die das Gemüt eine Schicht runterfahren lassen. Auf keinen Fall ist alternativ ein Joint zu empfehlen, denn das ist ja nicht legal, und dann tut man das ja nicht. Man nimmt sich vor, aus dem Abend eine außerkörperliche Erfahrung zu machen. Was immer passiert, betrachtet man aus der Metaebene. Streiten die Kinder wegen eines Geschenks, lässt man am besten den Opa sagen, dass das Christkind jetzt traurig ist, damit man sich nicht selber so einen Topfen überlegen muss. Und bringt der Ex am Heiligen Abend tatsächlich unangekündigt ein Date mit, dann freut man sich, dass es nun wen gibt, der den Vollgummi übernimmt. Ansonsten gibt es als Strategie immer den Gedanken daran, dass es ein Morgen gibt. Und man hat neue Schuhe.

6. Nachbetreuung und Erkenntnisse fürs nächste Jahr

Es wird wahrscheinlich so sein, dass gewisse Dinge über die Weihnachtsfeier nachschwingen. Manche davon werden gut sein. Und manche nicht. Die holt man sich hervor. Dann bucht man sich schleunigst den Super-Early-Bird-Urlaub fürs nächste Jahr. Denn neue Rituale dürfen sein. Und es muss nicht immer alles perfekt sein. Weil es fängt schon damit an, dass es nun keine Großtante Trude mehr gibt. Das ist traurig. Aber man wird am nächsten Weihnachtsabend sehr an sie denken. Egal wo der stattfindet. (Heidi List, 23.12.2019)