Für einige Generationen von Studierenden der Germanistik an der Universität Wien war der Altphilologe Helmut Birkhan zwischen 1970 und 2006 eine echte Institution: ein Wissenschafter, der sein Fach auf eine populäre, niemals anspruchslose Weise vertrat. Sein Spezialgebiet, die Keltologie, brachte er sogar ins Fernsehen. Nun hat der immer noch rege Emeritus eine Autobiografie geschrieben: Kindheit in Wien. Kriegszeit aus Kindersicht (Vitalis, 2020). Er erinnert sich an ein behütetes Familienleben in einer Zeit, in der Österreich nationalsozialistisch war. DER STANDARD nahm es als Anlass zu einer vorweihnachtlichen Unterhaltung über das kulturell vieldeutige Fest.

STANDARD: Herr Birkhan, in Ihrem Erinnerungsbuch findet sich eine Zeichnung von einem Bühnenbild: die Geburt des Jesuskindes am Hof des Herodes. Was hat es damit für eine Bewandtnis?

Birkhan: Ab und zu stelle ich das Marionettentheater auf, das ich im Keller habe. Dazu gehört ein Sammelsurium von Figuren aus unterschiedlichsten Zeiten. Für dieses Theater denke ich mir ab und zu etwas aus, zum Beispiel diese Weihnachtsszene: Wie wäre das, wenn das heilige Paar nicht in Bethlehem im Stall gewesen wäre, sondern im Palast des Herodes? Josef und Maria geben dort eine Audienz, einer der drei Magier ist der Doktor Faust! Ich bin schon als Kind mit Parodien aufgewachsen. Irgendwie hat das immer zu mir gehört.

Helmut Birkhan über Weihnachten in der Nazizeit: Es waren schöne, stimmungsvolle Feste. Ich bin weltfremd aufgewachsen.
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STANDARD: Sie sind Jahrgang 1938, erlebten also eine Kindheit im Nationalsozialismus. Wie wurde damals in Ihrer Familie Weihnachten gefeiert?

Birkhan: Es waren schöne, stimmungsvolle Feste. Es gab Karpfen und Erdäpfelsalat, nur ich bekam stattdessen einen Teddybärschmarrn aus Palatschinkenteig. Der hieß so, weil er so aussah, wie ich mir einen zerrissenen Teddybären vorgestellt habe, wenn man den aufschneidet und ausweidet. Meine Eltern haben wahnsinnigen Fleiß auf den Christbaum verwendet. Der Schmuck stammte teilweise noch aus der Zeit des Großvaters um 1870. Manches verkaufte uns später ein Hausierer aus Gablonz.

STANDARD: Not oder eine politische Einfärbung des Fests spielten also keine Rolle?

Birkhan: Wir haben keine Not gelitten, an die ich mich erinnern könnte. Der Vater war lungenkrank und war deswegen nicht eingerückt, er hat als Ingenieur große Baustellen geleitet. Er war ein Sozialist oder Humanist, hat das aber nicht zur Schau getragen. Meine Mutter war, glaube ich, marienfromm, aber auch sie drängte das niemand auf. Es gab Versuche einer gewissen alltäglichen Infiltration, etwa über das Winterhilfswerk. Besonders erinnere ich mich daran, dass der Vater immer das Radio ausgeschaltet hat, wenn eine naziverdächtige Sprechsendung kam. Dadurch habe ich nichts von den Siegen der Deutschen vernommen, später auch nichts von den Niederlagen. Da bin ich weltfremd aufgewachsen.

STANDARD: Welche Rolle spielte Weihnachten später mit der eigenen Familie?

Birkhan: Wir hatten einen schönen, wenn auch sehr viel kleineren Christbaum. Der Nikolaus hat die Gaben versteckt, die aufgefunden wurden, wenn die Kinder bestimmten Markierungen nachgingen, was etwas Alpenvereinsartiges hatte. Ich war öfters bei Freunden als Krampus eingeladen und legte meine Rolle "dämonisch" an, indem ich Stinkbomben am WC versteckt und Schwefelstreifen angezündet habe. Heute wäre das gegen den Geist der Zeit, denn man will Kinder nicht traumatisieren.

STANDARD:Wichtiger Teil des Weihnachtsfests ist ja der Erlösungsgedanke. Ein Kind wird geboren, auf das es entscheidend ankommt. Gibt es vergleichbare Vorstellungen bei den Kelten oder den Germanen?

Birkhan: Meines Wissens gibt es da keine Analogien. Mit dem Kind hätte man sich bei den Germanen nichts angetan, das hätte schon ein mächtiger König mit einer Heerschar sein müssen. Das mit dem göttlichen Kind ist wohl eher eine orientalische, ägyptische oder semitische Vorstellung.

STANDARD: Interessanterweise kreuzen sich im Weihnachtsfest zwei Geschichtsverständnisse: ein zyklisches und ein heilsgeschichtliches. Kannten die Germanen eine Vorstellung von Geschichte? Vom Ende der Geschichte? Bei den Christen bricht das Ende mit der Geburt des Erlösers ja schon an.

Birkhan: Das germanische Altertum sprach von einem Weltenbrand, aber da ist umstritten, ob das nicht christliche Vorstellungen sind, die eingermanisiert wurden. Wir dürfen nicht vergessen, die germanischen Zeugnisse entstammen alle dem Mittelalter und sind zum Teil bereits christlich geprägt. Auch die Edda mit der Vorstellung des Weltenbrandes – Ragnarök – ist nicht so alt. Natürlich waren auch diese Kulturen neugierig: Was wird mit uns geschehen? Es gab sicher eine Form zyklischen Denkens, parallel zur Erneuerung der Natur. Die Kelten lassen da aber ganz aus, was die Druiden darüber dachten, ist uns nicht überliefert. Alles, was wir darüber wissen, ist von Mönchen aufgezeichnet, und die wollten Erlösungsbedürftigkeit aufzeigen.

Helmut Birkhan und seine Frau, die Philosophin Ingvild.
Foto: Corn

STANDARD: Weihnachten ist heute ein ziemlich überfrachtetes Fest, vor allem, wenn man die ganze Saison dazuzählt. Es fällt eigentlich schwer, von einem christlichen Kern zu sprechen. Sehen Sie als Keltologe das auch eher relativ?

Birkhan: In der germanischen und in der keltischen Mythologie gab es überall ein Mittwinterfest. Dazu gehört im Grunde fast das ganze Winterhalbjahr. Aus Irland kennen wir die Vorstellung, dass in dieser Zeit die andere Welt offen steht, die sonst immer geschlossen ist. Da kommen die Dämonen heraus. Das hat man in Irland mit großen, erleuchteten Rübenköpfen gefeiert, durch die Auswanderer ist das nach Amerika gekommen und von dort dann zu uns. Der irische Name ist Samhain, englisch Halloween. Heiliger Vorabend.

STANDARD: Wie wurde das Mittwinterfest begangen?

Birkan: Im Stamm gab es ein großes Fest, der König oder Fürst hat eine große Fresserei und ein großes Gelage ausgerichtet. Sehr beschäftigt hat die Menschen aber diese Angst, die Gespenster könnten jemand entführen. Kinder bekamen deswegen gern ein Amulett.

STANDARD: Die geisterabwehrenden Winterbräuche bei uns sind vorwiegend germanisch?

Birkan: Das ist jedenfalls seit den Brüdern Grimm die klassische Auffassung: Es handelt sich um germanisches Brauchtum, das später christianisiert wurde. Nach der Zeit des Nationalsozialismus wollte man mit germanischem Brauchtum wenig zu tun haben, deswegen wurde diese Auffassung kleingehalten. Es ist aber unvorstellbar, dass solche Bräuche unter dem strengen Blick von Pastoren etwa im 16. Jahrhundert erfunden worden wären. Nach 1945 wurde es Usus, davon als antikem Brauchtum zu sprechen. Aber warum sollen denn ausgerechnet die Germanen keine Bräuche gehabt haben? (INTERVIEW: Bert Rebhandl, 24.12.2019)