Zusammen durch den Institutionendschungel einer sich zusehends diversifizierenden Welt: Vincent Cassel (li.) und Reda Kateb im Bann des Helfersyndroms.

Foto: Ascot Elite

Joseph ist nah dran. Er hat eine Aufgabe. Er soll mit der U-Bahn fahren und dabei nicht die Notbremse ziehen. Als ihn sein Betreuer Bruno aus den Händen der Polizei in Empfang nimmt, ist ihm klar: Es hat wieder einmal nicht ganz geklappt. Er erkundigt sich dann aber nach der Station, vor der Joseph den Verkehr unterbrochen hat, und er weiß nun, dass nicht mehr viel gefehlt hat. Joseph war "pas loin" – nicht weit – von seinem Ziel entfernt, ein normaler Mensch zu werden, den man allein auf die Straße lassen kann.

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Seine Schwierigkeiten haben mit einer Krankheit zu tun, die mit einem sehr allgemeinen Begriff als Autismus bezeichnet wird. Das alltägliche Leben von Menschen wie Joseph ist eine Gratwanderung. Sie sind Hors Normes, so der französische Titel des Films Alles außer gewöhnlich von Olivier Nakache und Éric Toledano. 2011 haben die beiden mit Ziemlich beste Freunde einen der erfolgreichsten französischen Filme aller Zeiten gemacht. Die Freiheit, die sie dadurch erlangten, haben sie für Alles außer gewöhnlich genützt, eine Geschichte über Engagement und Inklusion.

Geist der gemeinsamen Sache

Vincent Cassel ist Bruno, und Reda Kateb ist Malik. Zwei der größten Stars in Frankreich spielen zwei Sozialarbeiter mit einer gehörigen Portion Helfersyndrom, und zwar im guten Sinn. Beim Interview in Berlin Anfang Dezember sprachen die beiden Schauspieler ganz aus dem Geist der gemeinsamen guten Sache. "Mehr als die Figuren war es das Abenteuer dieses Films insgesamt, das mich angezogen hat", erzählt Cassel. "Wenn du von diesen beiden Regisseuren angesprochen wirst, ist das schon eine gute Neuigkeit, denn wir wissen, wofür sie stehen. Dazu kam die Gelegenheit, mit Reda zu arbeiten, und dann das Thema. Ich musste nicht lange überlegen."

Mindestens so bereitwillig war Reda Kateb, der 2009 mit dem Thriller Un prophète bekannt wurde und längst ähnlich populär ist wie Cassel: "Ich habe Eintrittskarten in einem Kino verkauft, da war Vincent bereits ein Star. Als ich dann selbst erfolgreich war, haben die Leute mich immer gefragt: Wann arbeitet ihr einmal zusammen? Das war die Gelegenheit. Ich habe schon ja gesagt, als es noch gar kein Drehbuch gab. Wir haben zuerst einmal die beiden Vereine gut kennengelernt."

Für Bruno und Malik gibt es Vorbilder im richtigen Leben, zwei Männer, die Vereine leiten, in denen Menschen geholfen wird, die sonst in psychiatrischen Einrichtungen ruhiggestellt würden. Mit seinen Helfern und Patienten macht das Ensemble von Alles außer gewöhnlich ein ziemlich präzis ausbalanciertes Bild des republikanischen, universalistischen Frankreich aus. Die Frage, ob da vielleicht der gute Wille zu korrekter Repräsentation den Film ins Idealistische kippen lässt, beantwortet Cassel entschieden: "Zu viel Vielfalt? Das ist die Wahrheit! Nur die Medien behaupten, das geht so nicht. Ich lebe in Belleville, das ist der gemischteste Ort der Welt, da leben 177 Nationalitäten in einem Viertel. Nach 9/11 gab es vielleicht einmal kurz ein paar Spannungen, aber im Alltag gibt es keinen Streit. Die Medien zeigen uns nicht die Wirklichkeit. Wenn wir also eine Gelegenheit haben zu zeigen, dass alles eigentlich ganz anders ist, dann nützen wir diese Gelegenheit."

Sozialer Sauerstoff

Auch hier schlägt Kateb in die gleiche Kerbe: "Ich komme aus der Arbeiterklasse und kannte immer Menschen mit vielen Herkünften. Diese Mischung ist für mich das Leben. Wenn ich in ein religiöses Land komme oder in ein Land mit viele Verboten, fühle ich mich nicht gut. Es ist, als würde mir der Sauerstoff fehlen. Frankreich ist für mich diese Mischung. Von außen sieht das vielleicht wie eine Utopie aus, für mich aber ist es der Alltag auf meiner Straße."

Es sind aber Patienten, um die es in Alles außer gewöhnlich in erster Linie geht. Der härteste Fall ist Valentin, der einen Schutzhelm tragen muss, weil er sich sonst schwer verletzen würde. In einer besonders markanten Szene spielen Bruno und Malik mit ihrem Team ein Spiel. Sie rufen einander Abkürzungen zu und müssen im Wettstreit erraten, welche Einrichtung (des, das muss man mitdenken, hochkomplexen Institutionengewirrs des Wohlfahrtsstaats) sich dahinter verbirgt. Sie spielen damit auf die Abstraktionen an, zu denen eine Bürokratie unweigerlich neigt. Dagegen halten Nakache und Toledano einen konkreten Humanismus, der sich zuallererst an Problemen orientiert, die sich nicht verallgemeinern lassen.

"Sie sind wirklich großzügig", lobpreist Cassel die Rollenvorbilder. "Warum würde jemand sein eigenes Leben für so etwas aufopfern? Man gibt seinem Leben dadurch einen Wert. Stéphane und Daoud sind das Gegenteil von zynisch, und diese Abwesenheit von Zynismus ist heute etwas sehr Untypisches. Stéphane erträgt einfach den Gedanken nicht, dass diese jungen Leute weggesperrt werden, wenn sich niemand um sie bemüht." (Bert Rebhandl, 27.12.2019)