Dirigent Andris Nelsons über die Möglichkeiten von Spontaneität beim Musizieren: "Du kannst nie ein Stück zweimal gleich spielen – auch wenn du es möchtest."

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Der Energetiker unter den international hochaktiven renommierten Dirigenten ist 2020 natürlich heftig mit Ludwig van Beethoven befasst. Andris Nelsons, Chef des Boston Symphony Orchestra und des Gewandhausorchesters Leipzig, hat mit den Wiener Philharmonikern alle Symphonien des Jubilars (Beethoven würde 2020 seine 250. Geburtstag feiern) aufgenommen. Er wird die neun Meisterwerke denn auch mit den Wienern auf einer Europatournee dirigieren, die auch den Wiener Musikverein miteinschließt.

Ebendort widmet sich der lettische Dirigent zuvor aber dem tanzseligen Repertoire der Strauß-Familie. Es ist sein erstes Konzert dieser Art, allerdings wirkt Nelson keinesfalls sorgenvoll.

STANDARD: Haben Sie eigentlich lange gegrübelt, bis Sie letztlich für das Neujahrskonzert zugesagt haben?

Nelsons: Ich schätze die Musik der Strauß-Familie. Dass ich sie mag, heißt allerdings nicht, dass ich sie auch gut dirigieren kann. Ich musste also schon ein bisschen nachdenken, aber natürlich war ich erfreut über die Anfrage der Wiener Philharmoniker. Und: Ich konnte doch eigentlich nicht wirklich Nein sagen!

Zudem: Ich musste nicht direkt in das Repertoire hineinspringen, ich hatte genug Zeit, mich vorzubereiten. Ich habe dieses spezielle Repertoire mit den Wiener Philharmonikern auch auf Tournee in Form von Zugaben interpretiert. Übrigens habe ich, als ich noch in Riga war, viele Konzerte mit diesen Werken dirigiert.

STANDARD: Ist das Neujahrskonzert für Sie letztlich vielleicht dann doch einfach ein Konzert wie jedes andere?

Nelsons: Die Kollegen, mit denen ich gesprochen habe, sagten alle übereinstimmend: Das Neujahrskonzert ist sehr erhebend, allerdings dürfe es nicht unterschätzt werden. Es sei eines der schwierigsten Dinge gewesen, die sie je getan haben! Ich habe schon vor einem Jahr begonnen, das Material zu studieren und natürlich auch die Arbeit der Kollegen, um die kleinen Unterschiede zu erkennen.

Diese Stücke müssen sich in einem quasi festsetzen. Wenn das einmal erreicht ist, kannst du dein eigenes Tempo, deinen eigenen Rhythmus finden, auch deinen Atem zu den jeweiligen Stücken. Und dann, das sagte mir Mariss Jansons, ist es sehr wichtig, die Philharmoniker einfach spielen zu lassen.

STANDARD: Was können Sie hier ganz persönlich interpretatorisch beitragen?

Nelsons: Du kannst eine Richtung anbieten, kannst Impulse geben, den Charakter mehr oder weniger melancholisch anlegen, du kannst auch mehr in Richtung längere Linien gehen. Aber du darfst nicht immer kontrollieren!

Speziell der Walzer funktioniert nicht, wenn du ihn nicht loslässt und ihn nicht genießt. Natürlich musst du eine klare Vision bezüglich des Charakters der Stücke besitzen. Du solltest auch eine Gesamtdramaturgie haben. Natürlich: Die Tradition zu studieren und zu ehren spielt ebenfalls eine große Rolle bei der Interpretation dieser Musik.

STANDARD: Wie spontan lässt es sich bei einer Veranstaltung sein, die – auch vom Fernsehen her – streng durchorganisiert ist?

Nelsons: Du kannst nie ein Stück zweimal gleich spielen – auch wenn du es möchtest! Aber natürlich: Da ist das Fernsehen, man muss auf Zeichen warten, wann man rausgeht – es ist also ein gewisser Kompromiss dabei. Beim Musikmachen selbst allerdings ist Spontaneität Teil des Ganzen. Es geht ja auch um Überraschungen für uns selbst, damit wir mehr Spaß haben. Manchmal muss man etwas mehr antreiben, wenn die Energie runtergeht, manchmal muss man beruhigen, es etwas melancholischer geraten lassen. Es gibt da keinen eindeutig richtigen Weg, den man vorher fixieren könnte.

STANDARD: Etwas, das das Orchester von Ihnen über den Walzer lernen könnte?

Nelsons: Ich glaube, nicht! Aber wenn wir auf diese Stücke mit Zuneigung und Freude wie auf kleine Perlen blicken, kann etwas gelingen. Für mich als Dirigenten ist es wichtig, Atmosphäre zu schaffen, einmal eine der extremen Freude, dann wieder eine der Melancholie.

Die Welt um uns ist so verrückt! Durch die Schwermut und Schönheit dieser Musik können wir etwas distanzierter auf das Ganze blicken und vielleicht erkennen, wo die Probleme liegen. Wir wollen natürlich Freude vermitteln. Es mag naiv und pathetisch klingen: Aber wir wollen auch signalisieren, dass die Rückkehr zu Werten wie Humanität und Barmherzigkeit wichtig ist. Im Bewusstsein dieser Werte würden viele politischen Probleme lösbar sein.

STANDARD: Werden Sie eine längere Rede halten? Das gab es ja manchmal.

Nelsons: Musik selbst ist eine Sprache. Sie drückt viel mehr aus, als Worte sagen können.

STANDARD: Sind Sie eigentlich ein guter Tänzer?

Nelsons: Nein, ich habe die südkoreanische Kampfsport Taekwondo betrieben. Ich könnte also springen, aber das würde ja auch nicht wie Tanzen aussehen.

STANDARD: Hat der Kampfsport in irgendeiner Art und Weise beim Dirigieren geholfen?

Nelsons: Darüber habe ich eigentlich noch nie nachgedacht. Ich habe den Sport von meinem elften bis zu meinem 22. Lebensjahr betrieben. Ich hörte mit ihm auf, als ich zu arbeiten begann. Taekwondo ist jedenfalls hilfreich für die Konzentration und die Koordination der Bewegungen. Ich möchte jetzt zu diesem Sport zurückkehren, um mich wieder in Form zu bringen!

STANDARD: Was werden Sie am Abend vor dem Neujahrskonzert, also am 31. 12., tun, wenn die Menschheit global feiert?

Nelsons: Es wird eines dieser Jahre sein, in denen ich sicher vor Mitternacht ins Bett gehe ... (Ljubiša Tošić, 27.12.2019)