Die Zukunft vorauszusagen ist ein Grundbedürfnis des Menschen. Soweit wir in die Zeit zurückblicken können, gab es Orakel, Auguren, Traumdeutungen, Prophezeiungen und andere Formen der Wahrsagung, mit denen die Menschen den Willen der Götter zu ergründen versuchten, die über deren Schicksal bestimmten. Im Christentum und anderen eschatologischen Religionen nahm die Bedeutung der Propheten ab, denn die Zukunft war ohnehin bekannt: Die Welt werde untergehen und vom wahren Reich Gottes abgelöst werden.

Der dramatische Klimawandel hinterlässt in manchen Weltregionen apokalyptisch anmutende Landschaften, so etwa im Amazonas-Gebiet.
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Immanuel Kant und Georg Wilhelm Friedrich Hegel führten in die europäische Geisteswelt eine Geschichtsphilosophie ein, die von einem stetigen Fortschritt hin zu einer besseren und friedlicheren Gesellschaft ausging. Karl Marx übernahm diese Idee in seinem historischen Materialismus, der den Weg vom Feudalismus über den Kapitalismus zu einer klassenlosen Gesellschaft im Kommunismus als ehernes Gesetz betrachtet. Und zuletzt war es der US-Politologe Francis Fukuyama, der das "Ende der Geschichte" in Form der liberalen westlichen Demokratie voraussagte – und dabei ebenso irrte wie Marx.

Auch wenn Astrologen immer noch ihre Anhänger finden, besteht heute in unserer Welt ein Konsens, dass Geschichte keinem Ablaufgesetz folgt und daher auch nicht vorhersehbar ist. Aber ganz wollen wir von der Versuchung der Wahrsagung nicht lassen, das emotionale Bedürfnis ist zu stark. Wir wollen wissen, ob die EU in verfeindete Nationalstaaten zerfallen wird, ob Donald Trump die USA in eine autoritäre Kleptokratie verwandeln wird, ob in Europa der liberale Rechtsstaat den Angriff der Populisten überstehen kann, ein autoritäres China zur Supermacht aufsteigen und der Welt seinen Stempel aufdrücken wird – und vor allem, ob der Klimawandel doch noch gebremst werden kann oder die humane Zivilisation zerstören wird. Und in rechten Kreisen sind es Angstvisionen wie eine ungebremste Massenmigration aus Afrika oder die Umwandlung Europas in ein islamistisches Eurabia, die in einem Ton der Unvermeidlichkeit verkündet werden.

Eherne historische Gesetze sind mit dem Fall des Kommunismus aus der Mode gekommen. Dafür ertönt umso lauter der Ruf, aus der Geschichte zu lernen, und nicht nur an historischen Gedenktagen. Aber Lehren aus der Vergangenheit sind nur möglich, wenn man davon ausgehen kann, dass sich gewisse Muster in der Politik und der Gesellschaft wiederholen. Wir schauen zwar nicht mehr in die Eingeweide von Schlachttieren oder starren in Kristallkugeln, aber wir verwenden die Geschichte als Kursbuch für unsere eigenen Erwartungen.

Urknall in Sarajevo

Die Geschichte, von der wir zu lernen hoffen, ist natürlich die des 20. Jahrhunderts, in dem mehr Glück und mehr Tragik zu finden sind als in irgendeinem anderen Zeitalter. Wenn sich historische Entwicklungen tatsächlich wiederholen, dann bietet die Ära von 1900 bis zum Jahr 2000 eine unerschöpfliche Menge an Mustern.

Aber wie in einem Rorschachtest kann jeder etwas anderes in ihnen erkennen. Vor allem in zwei Gruppen teilen sich die lernbegierigen Schüler der Zeitgeschichte: in die Pessimisten, die die Welt auf dem sicheren Weg in den Untergang sehen, und die Optimisten, die auf die positiven Entwicklungen schauen und fest an deren Fortsetzung glauben. Und beide können sich aus der Geschichte des 20. Jahrhunderts in ihren Überzeugungen bestätigt fühlen.

Denn das Besondere an dieser Ära, die jede Generation vor den Millennials noch intensiv miterlebt hat, war, dass sie in zwei Phasen zerfällt, die scheinbar einer völlig konträren Gesetzmäßigkeit gefolgt sind. In der Zeit von 1914 bis 1950 herrschte Murphys Gesetz: Jedes noch so unbedeutende Ereignis nahm den schlechtmöglichsten Ausgang. Dann wendete sich der Weltenlauf: Die Welt stand zwar mehrmals am Abgrund, stürzte aber niemals ab.

Jetzt, wo wir die ersten beiden Jahrzehnte des 21. Jahrhunderts hinter uns gebracht haben und die neuen 20er-Jahre betreten, liegt die Frage auf der Hand: Mit welcher der beiden Halbjahrhunderte lässt sich unsere eigene Zeit vergleichen? Sind wir auf dem Weg in den Untergang oder in der Ära des Fortschritts und der Hoffnung?

Gehen wir zum Urknall der Tragödien des 20. Jahrhunderts zurück. Der österreichische Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau fielen in Sarajevo einem dilettantischen Attentäter zum Opfer, der nur durch Zufall sein Ziel erreichte. Der Krieg, der daraus folgte, hätte in den folgenden Wochen ein Dutzend Mal abgewendet werden können. Und eine furchtbare Dynamik, die erst im Nachhinein als unvermeidlich wirkte, führte dazu, dass ganz Europa in einen regionalen Konflikt hineingezogen wurde, der statt einer kurzen Phase der Feindseligkeiten sich als vierjähriges Blutvergießen von unvorstellbarem Ausmaß entpuppte.

Der Sturz des Zarenregimes in Russland hätte dann ein wenig Grund zur Hoffnung gegeben. Doch statt der gemäßigten Bürgerlichen setzte sich im Verlauf des Jahres 1917 eine kleine radikale Kaderpartei durch, die prompt eine neue blutige Diktatur errichtete. Und der frühe Tod von Wladimir Iljitsch Lenin ebnete den Weg für die Machtergreifung des schlimmsten aller Bolschewiken. Mit Josef Stalins Tyrannei konnte nur Adolf Hitler mithalten, und seine Gewaltherrschaft dauerte mehr als doppelt so lang.

Hitler und Stalin

Hitlers Aufstieg zum Herrscher und Zerstörer Europas ist überhaupt die Geschichte einer Verkettung unglücklicher Ereignisse, die keine noch so böse Fantasie hätte erfinden können. Der Demagoge Hitler war das Produkt des Ersten Weltkriegs, wäre aber eine Fußnote in der deutschen Geschichte geblieben, wenn nicht dem New Yorker Börsenkrach von Oktober 1929 eine Serie von wirtschaftspolitischen Fehlentscheidungen gefolgt wäre, die aus einer Finanzkrise eine Weltwirtschaftskrise machten, was in der fragilen Weimarer Republik die Parteien der Mitte zerrieb.

Aber selbst das hätte Hitler nicht an die Macht gebracht, wenn nicht im Augenblick, in dem sich die deutsche Wirtschaft zu erholen begann und er bereits wieder Unterstützung verlor, ihm eine Gruppe verblendeter Konservativer an die Macht verholfen hätte. In den Folgejahren hätten ihn die Franzosen, die Briten oder die eigenen Militärs mehrmals stoppen können.

Stattdessen konnte er seine Armee ausbauen und dann einen Krieg vom Zaun brechen, in dem seine Wehrmacht anfangs jede Schlacht für sich entschied. Und auch nach der Kriegswende 1942 dauerte es noch drei Jahre, in denen das NS-Regime in seinem Rassenwahn noch Millionen von Juden und andere Minderheiten vernichten konnte, bis zur endgültigen Niederlage. Selbst das Attentat auf Hitler am 20. Juli 1944, das das Morden vielleicht hätte beenden können, scheiterte. Nicht mit dem Schlimmsten zu rechnen erwies sich in dieser Zeit stets als schrecklicher Fehler.

Nach der Kapitulation ging das Unglück weiter. Die USA läuteten die Atomära ein, ohne die Folgen zu bedenken. Stalins Rote Armee übernahm die Herrschaft bis tief nach Mitteleuropa hinein, selbst einige westliche Staaten drohten an den Kommunismus zu fallen. In China gewann mit Mao Zedong jener Mann den Bürgerkrieg, der zum dritten großen Schlächter des Jahrhunderts aufsteigen sollte.

Wirtschaftsaufschwung

Im Juni 1950 brach in Korea ein neuerlicher Krieg aus, dem in drei Jahren rund vier Millionen Menschen zum Opfer fielen. Da nun auch die Sowjetunion zur Atommacht aufstieg und mit den USA ein Wettrüsten begann, stand die Welt von da an am Rande der nuklearen Vernichtung. Die wissenschaftliche Zeitschrift Bulletin of the Atomic Scientists stellte ihre Weltuntergangsuhr 1947 auf sieben vor zwölf und verschob die Zeiger bald auf zwei vor zwölf.

Aber in der Mitte des Jahrhunderts drehte sich die Dynamik der Geschichte, als ob ein zynischer Drehbuchautor von einem freundlicheren Kollegen abgelöst worden wäre. Der nichtkommunistische Teil Europas, die USA und Japan erlebten einen beispiellosen Wirtschaftsaufschwung, der Millionen zum Wohlstand verhalf. In Afrika und Asien ging die düstere Kolonialzeit zu Ende. Der Kalte Krieg wurde nicht heiß, und selbst in den gefährlichsten Momenten der Supermächtekonfrontation, etwa in der Kubakrise 1961, wurde der Friede bewahrt.

Das galt nicht für alle Staaten, es gab blutige Kriege und Bürgerkriege. In Vietnam kostete ein jahrzehntelanger Kampf Millionen Menschen das Leben. Aber Ostasien wurde ab den 1960er-Jahren auch Schauplatz eines zweiten Wirtschaftswunders, das nach Maos Tod 1976 schließlich auch China erfasste. Und dann kam vor 30 Jahren das Wunder des Berliner Mauerfalls und des zumeist friedlichen Endes des Kommunismus. In den Folgejahren machte Europa Riesenschritte zur Einigung, bis hin zur lang erträumten Schaffung einer europäischen Währung. Das Internet weckte Hoffnungen für eine politische Zukunft mit Transparenz und Mitbestimmung.

Wer in der Neujahrsnacht 2000 auf das Jahrhundert zurückblickte, konnte über das Wohlwollen der Geschichte nur staunen. Die größte Sorge dieser Zeit galt dem Jahr-2000-Problem, das zahlreiche Computer zum Absturz zu bringen drohte. Selbst diese Angst erfüllte sich nicht.

Putin und Bush

Doch im neuen Jahrtausend schien sich die Geschichte erneut zu drehen. Im halbdemokratischen Russland zog Wladimir Putin in den Kreml ein und kehrte bald darauf zur autoritären russischen Tradition zurück. In den USA erzielte George W. Bush einen fragwürdigen Wahlsieg. Als am 11. September 2001 einer Handvoll islamistischer Terroristen im Herzen von New York der größte Terroranschlag der Geschichte gelang, führte Bush die Supermacht in zwei Kriege, von denen zumindest der im Irak auf Lügen aufbaute und katastrophale Folgen hatte.

Eine Verkettung unverantwortlicher Praktiken in der Bankenwelt führte im September 2008 zum finanziellen Super-GAU, der ein paar Jahre später die Eurozone fast zerrissen hätte. Die Krisen zerstörten viel Vertrauen gegenüber der liberalen Ordnung und deren elitären Vertretern, was Rechtspopulisten in den USA und Europa beflügelte. Das Internet erweist sich dabei als bestes Instrument für jene, die Lügen für ihre Zwecke verbreiten wollen.

Ein junger Gemüsehändler in einer tunesischen Kleinstadt verbrannte sich im Dezember 2010 selbst und stieß damit in der arabischen Welt eine Protestbewegung an, deren demokratische Hoffnungen bald zerstört wurden. Für Libyen, Syrien und den Jemen brachte der Arabische Frühling nur neues Leid. Die Flüchtlingswelle, die diese Bürgerkriege auslöste, gab in Europa dem Nationalismus neuen Auftrieb; in Großbritannien mündete diese Entwicklung, verstärkt durch eine Serie unüberlegter Handlungen der politischen Entscheidungsträger, in den Brexit.

Donald Trump und Xi Jinping zerstören jeweils auf ihre Weise die liberale Weltordnung.
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In China schwang sich Xi Jinping zum Alleinherrscher auf und zerstört auch mit dem Aufbau eines hochtechnologischen Überwachungsstaates alle Hoffungen auf eine politische Liberalisierung. In Indien kam eine nationalistisch-hinduistische Partei an die Macht, die immer offener gegen die säkularen Prinzipien der größten Demokratie der Welt verstößt. Und in den USA gelangte ein Unternehmer und Entertainer auf einer Welle des Ressentiments und der Unabwägbarkeiten eines absurden Wahlsystems ins Weiße Haus.

Dort setzt Donald Trump seit drei Jahren alles daran, die demokratischen Werte des Landes und die liberale Weltordnung, die die USA nach 1945 errichtet haben, systematisch zu zerstören. Dies geschieht in einem Augenblick, in dem die Welt angesichts der wachsenden Klimakatastrophe ein gemeinsames Vorgehen der Staaten dringender braucht denn je. Erleben wir in den 2020er-Jahren eine Wiederholung der 1920er, mit dem bekannten Ausgang?

Verzweiflung und Hoffnung

Die vergangenen zwanzig Jahre geben allerdings auch den Optimisten argumentative Nahrung. Nach dem Kollaps von Lehman Brothers wandten Regierungen und Notenbanken die Lehren aus den 1930er-Jahren an und verhinderten damit einen wirtschaftlichen Absturz. Die EU-Spitzen ließen sich weder von Boris Johnson noch von Viktor Orbán ganz auseinanderdividieren, die Rechtspopulisten schafften den Durchmarsch nicht; in Italien verloren sie bald wieder die Macht, und in Österreich folgte auf die kurze Phase der Mitregierung ein peinlicher Absturz. Und in den USA stößt Trump Schritt für Schritt auf Widerstand. Das Impeachment hat im Senat zwar keine Chance, aber wenn man die Umfragen als Maßstab nimmt, ist seine Wiederwahl keine ausgemachte Sache. Optimisten mögen es im Augenblick schwerhaben, aber sie stehen nicht auf verlorenem Posten – vor allem nicht in einer längerfristigen Perspektive.

Beim Klima prallen Verzweiflung und Hoffnung heute am härtesten aufeinander. Die Weltuntergangsuhr, die Mitte der 1990er-Jahre bei drei viertel zwölf stand, steht seit dem vergangenen Jahr wieder auf zwei vor zwölf. Die Prognosen der Klimaforscher lesen sich immer öfter wie apokalyptische Visionen, die selbst ehrgeizige Klimapläne als sinnlos erscheinen lassen. Und dass sich die Staatengemeinschaft auf einen ehrgeizigen Klimaplan einigen und diesen auch umsetzen wird, erscheint nach der enttäuschenden Weltklimakonferenz in Madrid noch unwahrscheinlicher. Die politischen Realitäten stehen dem im Wege.

Der US-Autor Jonathan Franzen ist nicht der Einzige, der den Kampf gegen den Klimawandel für verloren erklärt und dazu aufruft, alles zu tun, damit die Menschheit die Folgen überlebt. Er ähnelt darin dem Dänen Björn Lomborg, der seit Jahren erklärt, dass eine wirkungsvolle Eindämmung der Treibhausgasemissionen viel zu teuer sei und man – neben der Lösung anderer sozialer und gesundheitlicher Probleme – stattdessen in die Anpassung investieren müsste.

Aber dem steht eine neue Generation gegenüber, die nicht bereit ist, die Hoffnung fahren zu lassen. Es ist paradox: Die radikalsten Klimaaktivisten mit ihren düsteren Warnungen sind heute die größten Optimisten. Sie sind überzeugt, dass die Katastrophe doch noch abgewendet werden kann. Anders als die Bremser, die in den Hauptstädten der Welt mit ihrem Pragmatismus den Ton angeben, wollen sie sich jedoch nicht darauf verlassen, dass wir schon irgendwie davonkommen werden. Denn der Lauf der Geschichte lässt sich zwar nicht steuern, aber er lässt sich beeinflussen. (Eric Frey, ALBUM, 28.12.2019)