Mit seinen Balladen wurden Generationen von Gymnasiasten gequält. Oder sie fesselten, wie in meinem Fall. In der Klasse war es mucksmäuschenstill, als der Deutschlehrer Die Brück’ am Tay vortrug. Was er uns nicht sagte: dass Theodor Fontane (1819 – 1898) ein reales Ereignis aufgegriffen hatte. Bei einem Sturm war die Brücke über den Firth of Tay, die Mündungsbucht des Flusses an der Ostküste Schottlands, eingestürzt, genau in dem Augenblick, als ein Zug darüberfuhr. Der Zug versank mit der Brücke, einem technischen Wunderwerk jener Zeit, in den Fluten, alle Insassen starben.

Die Theodor-Fontane-Statue und das Fontane-Ampelmännchen in seiner Geburtsstadt Neuruppin, Deutschland.
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Das Unglück ereignete sich am 28. Dezember 1879. Fontane las den Zeitungsbericht und hatte wenige Tage später die Ballade fertig. Darin überhöht er die Katastrophe ins Mystische. Für die unberechenbare und unkontrollierbare Kraft der Natur stehen drei Hexen. Sie haben, nach dem Vorbild in Shakespeares Macbeth, die Tragödie ausgeheckt. Als Mahnung und Warnung vor menschlicher Hybris. Denn: "Tand, Tand, / ist das Gebilde aus Menschenhand." Der Mensch mag technische Meisterleistungen vollbringen – Herr über sein Schicksal ist er nicht.

Diesen Gegensatz zwischen Anspruch und Möglichkeit, zwischen Vorhaben und Verwirklichung, zwischen innerer Freiheit und äußerem Zwang trug Theodor Fontane zeit seines Lebens in sich. So sehr er ihn mitunter bedrückte, so sehr bezog er daraus seine Schaffenskraft. In seiner jüngst erschienenen Fontane-Biografie arbeitet der Berliner Literaturwissenschafter Hans Dieter Zimmermann sehr schlüssig das Widersprüchliche als zentrales Element des Menschen und Dichters Fontane heraus.

Frühe Verehrung für Bismarck

Das könnte sich schon im Untertitel ausdrücken – wäre er mit einem Fragezeichen versehen. War Fontane tatsächlich "der Romancier Preußens"? Als solcher wurde er auf dem Höhepunkt seines späten Ruhms und posthum gefeiert. In seinen frühen Heldenballaden verherrlichte er das alte Preußen. Aber schon in einem Aufsatz vom 31. August 1848 schrieb er, Preußen sei Lüge und müsse zerfallen. Im März des Revolutionsjahrs war er als 29-Jähriger auf den Barrikaden gestanden, wenn auch nur kurz.

Knapp eineinhalb Jahrzehnte später kandidierte er bei den Wahlen für König und Vaterland auf der Liste der Konservativen, freilich erfolglos. Vom glühenden Anhänger Bismarcks wurde er zu dessen erbittertem Gegner. Hellsichtig ahnte er, dass die skrupellose Großmachtpolitik des "eisernen Kanzlers" das Terrain für die später von Deutschland ausgehende europäische Katastrophe aufbereitete. 1895 schrieb er in einem Brief an einen Freund, "dass dem Sieg des Neuen eine furchtbare Schlacht vorausgehen muss".

Klar war auch sein Blick auf sich selbst. Seine politischen Anschauungen seien ,allerdings zu allen Zeiten etwas wackliger Natur‘ gewesen, schreibt er im fortgeschrittenen Alter.

Klar war auch sein Blick auf sich selbst. Seine politischen Anschauungen seien "allerdings zu allen Zeiten etwas wackliger Natur" gewesen, schreibt er im fortgeschrittenen Alter. Er bekennt dies, etwas verschämt, in einer Parenthese, die er einer Fußnote zu einem Text einfügt. Auch seine frühe Verehrung für Bismarck versuchte er später mehr oder weniger elegant zu verschleiern. Aber klar ist, dass Fontane sich seiner Schwächen so bewusst war wie seiner Fähigkeiten.

Das bewahrte ihn vor einem harten Urteil über andere. Jeder Mensch verdient es, eben als Mensch, als Individuum in seiner ganzen Komplexität und Widersprüchlichkeit gesehen zu werden: Das macht die Größe von Fontanes Werk aus, vor allem seiner Romane. Und damit erscheint der Nachkomme einer französischen Hugenottenfamilie heute als ganz und gar moderner Schriftsteller, trotz des gesellschaftlichen Rahmens, in dem sich seine Figuren bewegen – und dessen Brüchigkeit er spürte. Denn er kannte seine Pappenheimer aus der Erfahrung seiner vielfältigen Tätigkeit: als Apotheker, Journalist, Korrespondent in England, Kriegsberichterstatter, Theaterkritiker.

Sein schöpferisches Ringen war immer auch eines um seine und seiner Familie materielle Existenz, und das machte ihn mitunter zum Opportunisten. Erst im fortgeschrittenen Alter fand er zu seiner künstlerischen Bestimmung – mit den Romanen, die ihn berühmt machten und ihm endlich auch ein sorgenfreies Leben ermöglichten. Hier lösten sich die Widersprüche auf. Kein Wunder also, dass Fontane seine späten Jahre als die glücklichsten bezeichnete.

Meisterhaftes Einerseits-andererseits

Aus den Romanen wiederum sticht Effie Briest als singuläres Opus hervor. Thomas Mann meinte, in einer auf nur sechs bis zehn Bände beschränkten Romanbibliothek dürfe Effie Briest nicht fehlen. Was macht dieses Werk so besonders? Es ist gewissermaßen die Essenz von Fontanes Schaffen – und seines Wesens. Der Mensch, unlösbar verstrickt in innere und äußere Zwänge. Der Jahre zurückliegende Ehebruch der blutjungen Effie wird von ihrem Mann durch einen dummen Zufall entdeckt, das Unheil nimmt seinen Lauf.

Unabwendbar? Erst nachdem sich der Ehemann einem Freund anvertraut hat, entschließt er sich endgültig zum Duell. Und warum? Eben weil nun auch ein anderer weiß, dass die Ehre des Barons verletzt ist. Dabei rät dieser andere eindringlich, die Sache auf sich beruhen zu lassen. Aber der Baron kann nicht mehr zurück, die gesellschaftlichen Zwänge erlauben es nicht. Er hat sich mit vollem Bewusstsein selbst in die Sackgasse manövriert.

Wo Fontanes Sympathien stehen, ist klar. Die verstoßene und geächtete Ehebrecherin lässt er das Urteil über die Gesellschaft fällen: "Ehre, Ehre, Ehre ... und dann hat er den armen Kerl totgeschossen, den ich nicht einmal liebte und den ich vergessen hatte, weil ich ihn nicht liebte. Dummheit war alles, und nun Blut und Mord. Und ich schuld ... Mich ekelt, was ich getan; aber was mich noch mehr ekelt, das ist eure Tugend. Weg mit euch. Ich muss leben, aber ewig wird es ja wohl nicht dauern."

Hans Dieter Zimmermann, "Theodor Fontane – DerRomancier Preußens". € 28,80 / 458 Seiten. C.-H.-Beck-Verlag, München 2019
Foto: C.-H.-Beck-Verlag

Fontane überlebte das Erscheinen von Effie Briest um vier Jahre. Man kann den Roman als sein menschliches wie gesellschaftspolitisches Vermächtnis lesen. Auch wenn er die Verhältnisse und die Motive der handelnden Personen kritisiert, er versteht sie. Meisterhaft kommt dieses Einerseits-andererseits, diese "poetische Gerechtigkeit", in den Dialogen zum Ausdruck.

Weniger rühmlich ist Fontanes Haltung gegenüber den Juden. Zimmermann lässt es offen, ob man Fontane als Antisemiten einstufen kann. Einige seiner engsten Freunde waren Juden, und zu seinem treuesten Publikum zählten die Berliner Juden. Zugleich aber verstörte ihn die schiere Zahl der Juden. Im Sommer 1896 schreibt er an seine Tochter Mete: "Berlin wimmelt von Russen, Australiern, Kaliforniern und Illinoismen; auch viele Franzosen sind da – alle hier aufgezählten sind aber Juden.

Und dabei darf man nicht mal Antisemit sein, weil das wieder zu dumm und zu roh sein würde." Und in einem Brief an seinen jüdischen Freund Georg Friedlaender zitiert er einen Realschulprofessor: "Sonderbar, die Juden bei uns tun die deutsche Kulturarbeit, und die Deutschen leisten als Gegengabe den Antisemitismus." Es wäre ja verständlich, wenn man Antisemit wäre – aber als gebildeter Mensch darf man das nicht: bürgerliche Selbstreflexion als zivilisatorischer Sicherheitsschalter. Auch in diesem inneren Zwiespalt Fontanes scheint eine Ahnung dessen mitzuschwingen, was wenige Jahrzehnte später zum Durchbruch kam, als alle Sicherungen durchbrannten. (Josef Kirchengast, ALBUM, 28.12.2019)