Petra Nagenkögels eben erschienenes Buch lässt sich schwer einordnen in die üblichen Gattungseinteilungen: Ist es ein Roman? Ein Essay? Ein Reisebericht? Ein literarisches Porträt von Buenos Aires? – Auf jeden Fall ist es ein ungewöhnliches, ein poetisches und zugleich analytisches Buch, was hier kein Widerspruch ist. Es ist "Geografie" in einem kritischen Sinn, indem es Erdgeschichte, Naturgeschichte und Historie als eine Geschichte der Kränkungen vorführt, der Kränkung der Erde, der Landschaft und als Gewalt gegen Mensch und Tier. Geschrieben aus einer Position des Widerstands, rückt es die Folgen des Kolonialismus in den Blick, die Zerstörung der Kulturen der indogenen Ureinwohner und die Wirklichkeit der heutigen, schrankenlosen Kapitalherrschaft.

Verschränkte Macht

Das Buch vermittelt einen konkreten Eindruck davon, wie die ökonomische mit der medialen Macht verschränkt ist. Zu den Leitmotiven von Nagenkögels literarischer Geografie gehört die Auseinandersetzung mit der omnipräsenten Reklame, ob es die megalomanen Leuchtreklamen des urbanen Zentrums von Buenos Aires sind oder die Fernsehbildschirme, die in jeder noch so armen Behausung und in jedem öffentlichen Verkehrsmittel mit ihren vorgefertigten Bildern und Phrasen die Menschen ihrer eigenen sozialen Welt entfremden.

"Sie verfremdet und klärt zugleich den Blick, den jeder von uns auf seine eigene Umgebung hat": Petra Nagenkögel.
Foto: Eva Mrazek

Das Ich-beteiligte szenische Verstehen in Geografie der Unruhe geht von konkreten Szenen aus, von städtischen oder ländlichen Räumen, von Fahrten in Eisenbahnen und Autobussen, von Straßenszenen, Märkten, oft von einem scheinbar ‚unspektakulären‘ Ereignis: wenn zum Beispiel ein Junge sein Gesicht in der Glasscheibe einer Geschäftsauslage hinter den eisernen Scherengittern ansieht, als wollte er in seinem Spiegelbild sich seiner selbst vergewissern und das Bild "mit sich und über den Tag tragen".

Ungesichertes Gelände

Das hohe Reflexionsniveau, was Selbstbilder und Fremdbilder angeht, zeigt sich in Nagenkögels Buch auch im Erzähldiskurs, der mehrere Ich-Möglichkeiten in der Auseinandersetzung mit der äußeren und inneren Realität erprobt. Eine davon ist die Aufspaltung der Erzählinstanz, wenn die Autorin manchmal von sich als "du" spricht und so ihren eigenen Blick in eine kritische Distanz rückt.

In der einleitenden Textsequenz, wo es um "den ersten Schritt auf ungesichertem Gelände" geht, haben wir es mit einer Geografin zu tun, die in der Schwellensituation der Erkundung des unbekannten Landes sich auch auf das eigene Unbewusste einlässt: "Und vielleicht geht es immer wieder nur darum: um diesen kleinen Moment, in dem du den Ausgang passierst, die Drehtür dich auswirft. Um den ersten Schritt auf ungesichertem Gelände, um die Verschiebung deiner Fremdheit von da nach dort. Weil du nicht weißt, was es heißt, anzukommen. Weil du nicht weißt, was hier bedeutet."

Petra Nagenkögel, "DORT. Geografie der Unruhe". € 21 / 176 Seiten, Jung und Jung, Salzburg 2019
Foto: Jung und Jung

Das "hier" erinnert an das "Dort" des Titels, und das Gehen auf "ungesichertem Gelände" liest sich wie ein Echo des Titelworts Geografie der Unruhe. Zu der poetischen Verflechtung der einzelnen, relativ selbstständigen Teile kommt der geografische Blick, der die Bahnlinien und die Straßen, die breiten Avenidas genauso wie die Lehmwege in den Randzonen der Stadt, in eigensinnige Narrative verwandelt, die sich mit persönlichen Geschichten verbinden. Und doch ist dieses Buch nicht zuletzt ein ‚Schreiben von der Erde‘, es ist Geo-Graphie im etymologischen Wortsinn, indem es sich immer wieder der materiellen Realität der Erde zuwendet, den geologischen Tiefenschichten genauso wie den von der Hitze aufgerissenen, vom Regen aufgeweichten oder niedergewalzten und zubetonierten Oberflächen.

Spiel der Rhythmen

Beinah verborgen, wie ein verschämtes Verlangen nach Auflösung dieser so bedrängenden Gewalt der Wirklichkeit findet man in Nagenkögels Geografie der Unruhe den immer wiederkehrenden Wunsch, zu verschwinden und zu vergehen in der alles leicht machenden Sprache der Literatur. Der traurig-schöne Schluss der Fahrt in der U-Bahn am Ende des Buchs antwortet, fast 170 Seiten später, wie ein Echo auf die Beschreibung der Autobusfahrt am Beginn, wo die auf dem Flughafen Ankommende den Weg in die Stadt nimmt.

Als würde sich zuletzt alles in Sprache auflösen, in ein Spiel der Rhythmen und Assonanzen, in Anklänge an andere Texte der Literatur, in einen fernen Dialog, wie man ihn auch von zu Hause kennt: Nagenkögel verfremdet und klärt zugleich den Blick, den jeder von uns auf seine eigene Umgebung hat, wenn in Dort, dieser eminent literarischen Geografie der Unruhe, die Rede ist von "diesen oder jenen Wegen im Dunkel, die sich queren, die zusammenlaufen und wieder auseinandergehen und sich anderswo zerstreuen, im Leeren, im Ungefähren, verschüttet, verloren, verrannt, weil es ist ein Toben des Verlierens, weil es ist ein Toben des Verschwindens, weil es Zeit ist." (Hans Höller, 28.12.2019)