Venedig, die einst so stolze Serenissima, "wo die Tauben gehen und die Löwen fliegen" (Jean Cocteau), war immer schon gefährdet. War nicht schon die Gründung dieser Stadt auf schwankendem Boden eine Provokation der Naturgesetze? Ein Abenteuer mit ungewissem Ausgang von vorneherein?

Als die bedrohten Festland-Veneter begonnen haben, auf ein paar Dutzend Inseln eine Stadt zu errichten, war vieles in Schwebe. Mit einem Wissen über die Beschaffenheit der Lagune, wie sie nur Menschen haben können, die am Wasser und zur See fahrend mit den Verhältnissen leben, gepaart mit handwerklichen Kenntnissen und Erfahrungen im Umgang mit den Materialien Holz und Stein, entstand dennoch im Laufe der Jahrhunderte eine sagenhafte Pracht, die in den Kirchen, Palästen und Plätzen bis heute zu erleben ist.

Das Wasser steht uns bis zu den Knien und eigentlich schon bis zum Hals, aber selbst das ist noch ein Selfie wert. Venedig 2019.
Foto: EPA / Andrea Merola

Doch dieses dem Handel, Eroberungskriegen und einer geschickten Diplomatie geschuldete Schatzkästchen ist dem Untergang geweiht. Was missgünstige und eifersüchtige Eroberer nicht geschafft haben, die Touristenmassen nicht ganz hinkriegen, wird die Erd-, Luft- und Meereserwärmung erledigen.

II

Die prunkvollen Kirchen mit den zusammengeraubten Spolien waren schon Napoleon ein Dorn im Auge – und ein gutes Jahrhundert später den Futuristen: Vernichten wollten sie diesen "Magneten des Snobismus und der Dummheit aus aller Welt", "dieses edelsteingeschmückte Sitzbad für kosmopolitische Kurtisanen, die Cloaca Maxima des Durchzugsverkehrs". Und sie forderten nicht weniger als die Zerstörung der Stadt: "Beeilen wir uns, die kleinen, stinkenden Kanäle mit dem Schutt der alten, einstürzenden und aussätzigen Paläste zuzuschütten. Verbrennen wir die Gondeln, diese Schaukelstühle für Idioten (…)." Soweit einige Ausschnitte aus dem "futuristischen Manifest" von Tommaso Marinetti, das am 27. 4. 1910 am Campanile flatterte.

Das außergewöhnliche Acqua alta im November 2019 in Venedig war nur der spektakuläre Anfang. Von Fluten und Überflutungen sind bereits seit Jahren Küsten in Asien betroffen (beispielsweise ist auch das Mekongdelta – die "Reisschüssel" Vietnams – durch den Anstieg des Meeresspiegels bedroht). Nach und nach wird es sämtliche an Meeresküsten liegende Städte treffen. Denn das Zerstörungspotenzial der Erwärmung von Boden, Luft, Gewässern und Ozeanen, das erst von einer Minderheit ernst genommen wird, obwohl schon Millionen unmittelbar darunter leiden, ist nicht mehr aufzuhalten. Die von der Menschheit betriebene Veränderung der Erdoberfläche mit allen Mitteln, zu denen täglich neue dazukommen, hat eine Dynamik erreicht, die nicht mehr zu stoppen ist. Allein die durch Kriegshandlungen, brennende Wälder und Erdölfelder verursachte Hitze und Gasentwicklung bringt beträchtliche, entropieähnliche Unordnung ins ökologische Gefüge.

III

Einige ernsthafte und ernstzunehmende Wissenschafter, die nicht im Sold stehen von Konzernen, privaten Universitäten und Kriegsministerien (verzichtet doch endlich und ehrlicherweise auf den Euphemismus "Verteidigungsministerium"!), haben die desaströsen Folgen unserer Mobilität, der industriellen Landwirtschaft, eines absurden Warentransportes etc. für das Ökosystem und die daraus resultierenden Gefahren für die gegenwärtigen evolutionären Zwischenergebnisse erkannt.

Doch es gab auch einen Dichter, der für seine Kritik an der Selbstermächtigung des Menschen und der bedenkenlosen Plünderung der Erde von seiner Nation verdammt und zum Schweigen gebracht wurde: Robinson Jeffers. Selbst in den USA, wo er 1887 geboren wurde, kennt ihn kaum noch jemand. Im deutschen Sprachraum wurden seine Gedichte, die das Grausame in der Natur nicht ausklammern, trotz Bemühungen der Pound-Übersetzerin Eva Hesse, nur von wenigen gelesen. Der Lyriker, Dramatiker und Philosoph lehnte das westliche, auf dem Christentum fußende ("Macht euch die Erde untertan") und vom Humanismus transformierte Dogma von der zentralen Stellung des Menschen ab. Der Mensch sei nicht das "Maß" aller Dinge, sondern nur ein "Teil" der Evolution.

Trotz Fortschritts in den Naturwissenschaften sah Jeffers die Menschheit nach wie vor verstrickt in Mythen und schicksalhafte Prozesse. Die Aufklärung (von Kant als "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" definiert) habe auch im Abendland nur oberflächlich das Verhalten der Menschen und die Struktur ihrer Gesellschaften verändert. Die technischen Entwicklungen und die Warenproduktion seien zwar enorm, Individuen wie ganze Nationen werden jedoch nach wie vor von den gleichen atavistischen Ängsten und Triebstrukturen, Konkurrenz- und Machtbestrebungen beherrscht.

Dazu ein Beispiel: Als ich neulich, in Zusammenhang mit den jahrhundertelang andauernden Konflikten zwischen Frankreich und Deutschland, einen Historiker den Begriff "Erbfeindschaft" aussprechen hörte, wurde mir bewusst, wie tief verankert nach wie vor Befindlichkeiten und Begriffe sind, die uns eigentlich obskur sein sollten, da sie keiner Analyse standhalten: Feindschaften werden nicht vererbt, sind also nicht wie ein Talent oder eine Begabung vorgegeben, sondern anerzogen.

Tatsache ist, dass nach wie vor Nationen tatsächlich in Spannungsverhältnissen leben, die einerseits seit Jahrhunderten gepflegt werden, andererseits entstehen stets neue, da das Aufbauen oder "Erschaffen" eines Feindbildes die Klassengegensätze innerhalb einer Gesellschaft relativiert und die politische Führung erstarken lässt. Beispiele hierfür gibt es derzeit genug in Europa.

Auch diese großangelegte Manipulation der Massen, die es nach wie vor möglich macht, dass in einer frevelhaften Vergeudung von Rohstoffen, finanziellen Mitteln und menschlichen Ressourcen weiterhin, auch atomar, aufgerüstet wird, sieht Jeffers als eine große Bewegung dem Tod zu.

Wiederaufrüstung (1938 erschienen):

Diese Verdammnis, die große Bewegung dem Tod zu:

Die Größe der Masse rührt einen Narren,

Das reißende Mitleid mit den Atomen

der Masse, den Opfern,

Lässt es als ungeheuer erscheinen,

Die tragische Schönheit dieses Geschehens zu bewundern.

Es ist schön wie ein strömender Fluss

Oder ein langsam sich bildender Gletscher hoch im Gebirge,

Bestimmt, einen Wald unterzupflügen,

Oder wie Frost im November –

Der goldene, brennende Abtanz der Blätter,

(…)

Ich würde meine Hand in langsamem

Feuer verbrennen,

Um die Zukunft zu ändern ...

Ich würde töricht handeln. Die Schönheit

Des heutigen Menschen ist nicht in den Einzelnen, sie ist

In dem verzweifelten Rhythmus, den dumpfen, sich drängenden Massen,

Im Tanzschritt der traumgeleiteten Massen

Den Berg hinunter. Übersetzung: K. H. Hansen

IV

Ich weiß nicht, ob Jeffers Freud gelesen hat, jedenfalls war er mit der griechischen Mythologie vertraut, und er kannte die Werke der griechischen Dramatiker, die er übersetzt hat; er wusste, dass Zerstörung und Selbstzerstörung faszinieren kann. Einige seiner Verse haben prophetischen Charakter, vor allem in Hinblick auf die bereits angesprochenen ökologischen Zusammenhänge und die Rolle des narzisstischen, auf sich bezogenen Menschen.

Ich möchte drei Beispiele anführen. Im Jahr 1928 erschien das Langgedicht Die zerstörte Balance. Dort heißt es im Teil IV:

Die Welt verbraucht sich an Umschwüngen, Regen wird zu Gift,

Die Erde eine Gruft. Es ist Zeit zu vergehen.

Die Reben sind zerfressen, sogar die Fülle der Natur

Kränkelt das an, was ihre Grausamkeit zuvor gekräftigt hatte.

Steht man erst auf dem Scheitelpunkt der Zeit, ist es Zeit zu vergehen.

Im Jänner 1942 schrieb er Vierter Akt, ein Gedicht, in dem er eigentlich den Kriegseintritt der USA, aber auch die grenzenlose Zerstörungswut des Menschen thematisiert:

Es ist die zweite Szene, der vierte Akt der tragischen Posse

"Das Politische Tier". Der Held kommt an den Höhepunkt

Und verheert den ganzen Planeten; kaum die Insekten, nur

Vielleicht die Bakterien hatten je soviel Macht.

In Sternschnellen, entstanden in den 50er-Jahren oder Anfang der 60er-Jahre, lesen wir von einigen Vorgängen, die heute bereits eingeleitet wurden und mittlerweile sogar schon Provinzblätter, Stammtische und vielleicht sogar Manager beschäftigen.

Die Eismassen der Polarzonen schmelzen ab, die Gletscherstirnen

Kalben in die Ströme, und alle speisen sie das Meer;

Gezeiten schwellen an und ab, doch Jahr für Jahr ein wenig höher.

New York wird absaufen, London wird absaufen:

Und diese Stelle hier, wo ich die Bäume pflanzte und ein Haus aus Steinquadern aufführte,

Wird unter Wasser stehn. (...)

V

Sein Haus, das er im zuvor zitierten Gedicht erwähnt, hat er im wilden, noch kaum besiedelten Gebiet von Carmel in Kalifornien, unmittelbar an der Pazifikküste, ab 1919 errichtet und bis zu seinem Tod im Jahre 1962 bewohnt. Im Osten der Staaten, in Pittsburgh geboren, kappte er früh die Verbindungen zu einer korrumpierenden Zivilisation. Vormittags schrieb und feilte er an seinen Gedichten, nachmittags baute er mit Steinen, die er eigenhändig herbeischaffte, an seinem Tor House und an einem Turm, den er Hawk Tower nannte. Da aus aktuellem Anlass – Verleihung des Literaturnobelpreises an Peter Handke – wieder einmal heftig über die Trennung von Leben und Werk eines Autors gestritten wurde: Jeffers wählte einen unbequemen, radikalen Weg. Es sei besser, auf Granit gebettet zu sein, als auf Illusionen, meinte er. Bei ihm ist das Werk nicht von seinem Leben zu trennen. Es liegt an der kollektiven Verdrängung der Themen, die er in seiner Dichtung beleuchtet hat, dass er aus dem allgemeinen Bewusstsein verschwunden ist. Als 1948 sein Werk The Double Axe, in dem er eine Geisteshaltung einführte, die er als "Inhumanismus" bezeichnete, erschien, distanzierte sich sein eigener Verlag vom Autor und wurde in Anthologien nicht mehr berücksichtigt.

Die meisten Menschen leben mit dem Anspruch auf ihre oft absurden Gewohnheiten ähnlich wie Tiere in den Tag hinein und bedenken nicht die Folgen ihres Handelns. Erst in oder nach der Katastrophe gelingt manchen ein läuternder Rückblick. Bevor es zu einem Umdenken kommt und einem Handeln, das diesem Denkprozess entspricht, muss der Schmerz unerträglich werden, erkannte auch Hölderlin. Sein Gedicht Gebet für die Unheilbaren sei an das Ende meiner Ausführungen gestellt:

Eil, o zaudernde Zeit, sie ans Ungereimte zu führen,

Anders belehrest du sie nie, wie verständig sie sind.

Eile, verderbe sie ganz, und führ ans furchtbare Nichts sie,

Anders glauben sie dir nie, wie verdorben sie sind.

Diese Toren bekehren sich nie, wenn ihnen nicht schwindelt,

Diese (wandeln) sich nie, wenn sie Verwesung nicht sehn.

(Richard Wall, ALBUM, 27.12.2019)