"Oradour", ein Foto von Arno Gisinger, 1994.

Foto: Tiroler Landesmuseen

Wenn das Textverarbeitungsprogramm ein unschuldig in die Tastatur geklopftes "Ibiza" Ende 2019 ungefragt mit dem Wörtchen "Skandal" vervollständigt, darf man wieder einmal darüber nachdenken, was sich unsere am digitalen Tropf hängenden technischen Gerätschaften so alles merken – und warum.

Andererseits: Es ist die Zeit der Jahresrückblicke, da gebührt Ibiza fraglos einige Beachtung. Beliebt sind dieser Tage aber auch Resümees der 2010er-Jahre. In der Dekade ist einiges passiert – unter anderem hat der Europäische Gerichtshof das "Recht auf Vergessen" im Internet bestätigt.

Komplex, öffentlich, privat

Aber nicht nur in digitaler Hinsicht ist das Verhältnis zwischen Erinnern und Vergessen eine komplexe Angelegenheit. Wenn sich ein Museum mit dieser beschäftigt, scheint die Denkrichtung zunächst klar zu sein: Schließlich gelten Museen als Gedächtnisinstitutionen, Bewahren und Erinnern sind gleichsam ihr öffentlicher Auftrag. Die Idee, identitätsstiftende Objekte für ein Land oder eine Region zu sammeln, entstand wohlgemerkt aus einem im 19. Jahrhundert erstarkten Nationalbewusstsein heraus. Allein daraus ergibt sich reichlich Stoff für kritische Hinterfragungen. Im Innsbrucker Ferdinandeum spannt man den Bogen mit Vergessen. Fragmente der Erinnerung weiter bis in die Gefilde privater Gedächtnisleistungen.

Das Gesamtbild ist vielschichtig und ein gutes Beispiel dafür, wie sich aus großteils eigenen Beständen Erzählungen entwickeln lassen, die an aktuelle gesellschaftliche Fragen andocken. Als Leiter der Museumsbibliothek setzt Kurator Roland Sila auch auf die Denkräume, die literarische Texte eröffnen können.

Auf Plakate gedruckt, begleiten sie durch den aus rund 8000 leeren Archivschachten "gebauten" und mit einigen immersiven Installationen ausgestatteten Ausstellungsparcours, in dem man archäologischen Artefakten genauso wie "vergessenen" Objekten wie Handschuhspreizern aus den 50er-Jahren begegnet.

Denkanstöße

Sorgfältig ausgewählte künstlerische Positionen geben die einprägsamsten Denkanstöße: Christian Boltanskis La Réserve des Suisses Morts gehört dazu. Der französische Künstler hat sich in seinen Arbeiten wiederholt mit der Erinnerung an den Holocaust auseinandergesetzt. Die Porträts auf seinen übereinandergestapelten leeren Blechschachteln aber hat er aus Todesanzeigen in Zeitungen ausgeschnitten. Zusammenhänge bleiben ausgespart, aber "Es gibt immer eine Geschichte, auch wenn wir sie nicht kennen", so Boltanski.

Dass Arno Gisingers Fotografie aus Oradour-sur-Glane auch lokale Bezüge herstellt, bleibt leider ebenfalls eine verschüttete Information: Die SS verübte in der französischen Ortschaft 1944 ein Massaker, an das nach Kriegsende die französischen Besatzer in Tirol erinnerten, indem sie ein Lager, in dem NS-Verbrecher interniert wurden, "Oradour" nannten. (Ivona Jelčić, 28.12.2019)