Asmik Grigorian: "Mit Salome bin ich an Grenzen gegangen. Jetzt frage ich mich: Was ist der nächste Schritt, und habe ich überhaupt genug Kraft dafür?"

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Mit der Salzburger Salome ist sie vor zwei Jahren zur absoluten Weltspitze aufgerückt. In der Inszenierung von Romeo Castellucci war Asmik Grigorian eine ebenso eigenwillige wie verführerische Salome. Asmik Grigorian stammt aus einer Sängerfamilie, geboren wurde sie 1981 in Vilnius. In der Kritikerumfrage der Fachzeitschrift Opernwelt wurde sie heuer zur Sängerin des Jahres gekürt.

STANDARD: Lassen Sie uns generell beginnen: Was macht einen guten Sänger aus?

Grigorian: Ein wirklich guter Sänger ist stark. Er oder sie muss viel an sich arbeiten, einen guten Humor haben und auch mit Misserfolgen oder mit negativen Kritiken umgehen können. Die Stärke braucht man in erster Linie, um sich selbst treu zu bleiben.

STANDARD: Wie ist das Verhältnis zwischen dem Gefühl, das ein Sänger haben muss, und der Technik?

Grigorian: Als ich begann, waren meine Gefühle meiner Technik haushoch überlegen. Das hat mich in schwierige Situationen geführt. Vielen jungen Sängern geht es so. Ich gehe zu 99 Prozent in einer Rolle auf, die eigene Kontrolle macht nur ein Prozent aus. Wobei ich in Salzburg, wo ich wieder die Salome singen durfte, eine andere Erfahrung gemacht habe …

STANDARD: Erzählen Sie davon?

Grigorian: Es hat sich angefühlt, als ob Asmik und Salome verschmelzen. Für mich war das ein neues Gefühl, dementsprechend schwie rig ist es, darüber zu sprechen. Ich hielt zu 100 Prozent die Fäden in der Hand, gleichzeitig war ich zu 100 Prozent Salome.

STANDARD: Woher kommt es, dass Sie es geschafft haben, so viel Gefühl in die Rollen zu legen?

Grigorian: Mein ganzes Leben schon habe ich einen Spitznamen: Prinzessin der Gefühle. Ich war immer sehr emotional, das war nicht immer einfach, aber ich wollte es auch nicht anders. Das Gute ist: Ich kann Gefühlen vertrauen, sie zeigen mir den Weg.

STANDARD: Sie sind in Vilnius aufgewachsen. Es gibt dort eine tolle Sängerausbildung, in der die Technik eine große Rolle spielt. Haben Sie sich der Technik verweigert?

Grigorian: Ich habe dort nie singen gelernt, ich habe eine Klavierausbildung. Abgesehen davon war ich keine gute Schülerin. Aber Sie haben prinzipiell recht: Osteuropäische Schulen legen viel Wert auf Technik, aber ich bin nicht sicher, ob sie das in der richtigen Art und Weise tun. Sie üben zu viel Druck aus. Osteuropäer haben immer das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben. Meine ganze Ausbildung lang hat man mir gesagt, dass ich ein Nichts bin, dass ich dieses und jenes nicht könne und dass ich es nie zu etwas bringen werde. Darin liegen die Gründe dafür, dass ich nie mit mir zufrieden bin. Auch wenn mich das weitergebracht hat und weiterbringt: Ich glaube nicht, dass es der richtige Weg ist.

STANDARD: Sind Sie selbst mit Ihren zwei Kindern auch so streng?

Grigorian: Ich bin das genaue Gegenteil. Ich spiele viel mit meinen Kindern, ich lasse sie fast alles machen, was sie wollen (lacht).

STANDARD: Ihr Sohn ist bereits im jugendlichen Alter, Ihre Tochter aber erst drei. Ist sie immer noch bei all Ihren vielen Reisen dabei?

Grigorian: Ja, das ist das Wichtigste für mich. Ohne sie dabeizuhaben, würde ich nicht so arbeiten können. Ich bin auch eine Prinzessin der Schuldgefühle. Hätte ich meine Tochter nicht dabei, würde ich vor Schuldgefühlen vergehen. So aber wache ich mit ihr auf, wir frühstücken zusammen und gehen gemeinsam zu Bett.

STANDARD: Wie schaffen Sie das bei Ihren Verpflichtungen, bei dem Druck, dem Sie ausgesetzt sind?

Grigorian: Natürlich hat sich seit damals vieles geändert, einiges aber auch nicht. Ich arbeite immer noch so wie früher. Der Erfolg mit Salome hat mir das Privileg eingebracht, selbst aussuchen zu können, was ich mache und was nicht. Ich muss jetzt aber auch mit der großen Verantwortung umgehen. Erfolg ist ein wunderbares, aber ein gefährliches Geschenk.

STANDARD: Das Publikum erwartet eine Grigorian in Bestform. Die kann man aber schlichtweg nicht immer bringen.

Grigorian: Natürlich nicht. Mein Problem sind aber nicht die anderen, sondern ich selbst. Die Besucher kommen mit offenen Herzen, sie freuen sich darauf, mich zu sehen. Meine eigenen Erwartungen werden allerdings immer größer. Mit Salome bin ich an Grenzen gegangen. Jetzt frage ich mich: Was ist der nächste Schritt, und habe ich überhaupt genug Kraft dafür?

STANDARD: Sie kommen aus einer Musikerfamilie. Welche Sängerrollenbilder haben Ihnen Ihre Eltern vorgelebt?

Grigorian: Ich kann mich glücklich schätzen, die beiden waren nämlich komplett unterschiedlich. Von meiner Mutter habe ich Disziplin geerbt und das Wissen, dass ich meinen Intuitionen trauen kann. Mein Vater hat mir etwas anderes mitgegeben, und das ist wahrscheinlich auch der Grund, warum ich Sängerin geworden bin. Er war ein hervorragender Opernsänger, aber er wusste auch, wie man das Leben genießt. Er sagte: "Du musst auf der Bühne gut sein, Asmik, aber das Wichtigste sind Familie, Freunde, das Leben, die Sonne." Wenn er mir nicht gezeigt hätte, wie man ein richtig guter Sänger ist und gleichzeitig das Leben genießt, dann hätte ich diesen Beruf nicht gewählt.

STANDARD: War es nach der Salome einfacher, das Leben zu genießen? Sie können zu Rollen Nein sagen, haben vermutlich keine Geldsorgen mehr …

Grigorian: Na ja, ich bin ausgebucht bis 2024, da wird meine Tochter sieben und kommt in die Schule. Ich bin dabei, mir zu überlegen, in welchem Land ich sie in welche Schule schicken werde. Das wird auch für mich einiges ändern. Aber machen Sie sich keine Sorgen: Ich weiß auch jetzt, wie ich das Leben auskosten kann …

STANDARD: … sicher auch in Salzburg im kommenden Sommer. Sie werden die Chrysothemis in Elektra singen. Kommen Ihnen die Gefühlswallungen von Richard Strauss stimmlich entgegen?

Grigorian: Meine Stimme liebt Strauss. Es gibt Rollen, da muss man sich ins Zeug legen, mit Strauss hatte ich das Problem nie. Ich glaube, es ist die Farbe meiner Stimme, die gut zu Strauss passt.

STANDARD: Sie singen die Chrysothemis das erste Mal auf der Opernbühne. Die Rolle ist doch etwas anders als jene der Salome.

Grigorian: Ja, sowohl technisch als auch was das emotionale Level anbelangt. Aber ich freue mich schon darauf, Chrysothemis ist eine Kämpferin. Wie Salome ist auch sie jemand, die in einer schwierigen Situation Entscheidungen treffen muss und dadurch eine andere Person werden könnte. Manchmal denke ich, dass sich alle meine Rollen an diesem Punkt treffen. Als ob ich immer dieselbe Rolle spielen würde.

STANDARD: Wie gehen Sie mit der psychologischen Grundierung der Oper um? Setzen Sie sich damit auseinander?

Grigorian: Nein, das mache ich nicht. Denken war nie eine meiner Stärken. Fange ich damit an, dann läuft es mit Sicherheit schief. Bei mir kommt alles aus dem Bauch.

STANDARD: Bei Elektra arbeiten Sie mit dem Regisseur Krzysztof Warlikowski, der für seine teils radikalen Interpretationen bekannt ist. Wie gehen Sie mit Regiekonzepten um?

Grigorian: Ich habe damit keine Probleme, am Ende geht es darum, ob die Aufführung glückt oder nicht. Deswegen bin ich auch gegen das Wort Regietheater, Interpretationen gehören zur Oper dazu. Ich bin ein offener Mensch, ich finde, ein Regisseur hat das Recht, seine Geschichte zu erzählen. Als Sängerin arbeite ich im Team daran, diese und natürlich auch meine umzusetzen.

STANDARD: Sie verbringen kommendes Jahr den vierten Sommer in Folge in Salzburg. Gibt es abseits der Oper etwas, auf das Sie sich im Besonderen freuen?

Grigorian: Ich freue mich auf alles. Salzburg wurde zu so einem wichtigen Ort in meinem Leben, ja, es wurde zu einer Heimat für mich. Es gibt dort viele Menschen, die mir nahestehen. Mein Herz schlägt in Salzburg. (Stephan Hilpold, 29.12.2019)