Man muss sich nicht mehr scheuen, den Begriff Arabischer Frühling zu verwenden: Längst ist dieser seiner romantischen Aura, die ihn 2011 umgab, entkleidet. Erschüttert schauen wir auf die Ruinen, die von Syrien, Libyen und dem Jemen bleiben, und nehmen die überlebenden und die neuen Autokraten zur Kenntnis. Wenn 2019 demnach als Jahr eines neuen Arabischen Frühlings bezeichnet wird – mit dem Schlüsseljahr 2020 –, dann ist die Möglichkeit eines Scheiterns mehr als nur inkludiert. Mit Bewunderung, aber ebenso viel Sorge verfolgt man die neuen Protestbewegungen. Der Ausgang der Revolten 2011 verpflichtet zur nüchternen Analyse.

Die Frau in Weiß, die von einem Autodach aus die Demonstrierenden anfeuert, wurde zur Ikone der Protestbewegung im Sudan.
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Die dünne Oberfläche, unter der die Unzufriedenheit, sogar Verzweiflung brodelt, ist heuer vor allem im Sudan, in Algerien, dem Libanon und im Irak geborsten. Das sind sehr unterschiedliche Länder. Im Sudan wurde im April ein seit 30 Jahren regierender Diktator, Omar al-Bashir, gestürzt.

In Algerien musste, ebenfalls im April, der längst regierungsunfähige Präsident Abdelaziz Bouteflika abtreten: Er war jedoch, anders als al-Bashir im Sudan, 1999 nicht durch einen Putsch an die Macht gekommen, sondern durch einen politischen Prozess nach der Beendigung eines grauenvollen Bürgerkriegs. Und er war mehrmals wieder gewählt worden. Im Libanon und im Irak sind die Premiers, die die Demonstranten und Demonstrantinnen zum Rücktritt gezwungen haben, ebenfalls durch Wahlen zu ihren Positionen gekommen: aber eben durch Wahlen, die nach Regeln ablaufen, die die alte Macht – mit den gleichen Gesichtern – immer wieder perpetuiert.

Sucht man Gemeinsamkeiten zwischen den Protestbewegungen, wird man dennoch schnell fündig. In allen vier Ländern war zwar auch 2011 demonstriert worden, Umstürze oder signifikante Reformen erfolgten jedoch keine. Alle diese Staaten hatten eine traumatische jüngere Vergangenheit hinter sich, bei allen verbunden mit dem Wort Bürgerkrieg. Das trug mit Sicherheit dazu bei, dass die Menschen von "Revolutionsmüdigkeit" erfasst wurden, bevor die Revolution überhaupt begann.

Es geht um das Brot

Neun Jahre später geht es den Menschen in fast allen arabischen Ländern, ob Revolution oder nicht, schlechter. Der wirtschaftliche Druck ist in den vergangenen fünf Jahren, seit dem Einbruch der Ölpreise, noch größer geworden. Das soziale und wirtschaftliche Element der Proteste, das man 2011 angesichts der "Freiheit und Würde"-Slogans zu unterschätzen tendierte, ist heute noch viel stärker. Nicht umsonst hat das Protestjahr im Sudan im Dezember 2018 mit Demonstrationen gegen eine Brotpreiserhöhung begonnen.

Georges Fahmi verweist in einer Analyse für Chatham House auf die Langzeitstudie "Arab Barometer", laut der die Verbesserung der wirtschaftlichen Lage und die Bekämpfung der Korruption in den heutigen Protestländern als größtes Anliegen genannt wird (Sudan 67,8 Prozent, aber auch noch in Algerien, immerhin ein reiches Ölland, 62,3 Prozent). Dagegen ist das Ziel "Demokratie" nachgereiht: In allen der vier Länder sind es weniger als fünf Prozent der Befragten, die sie als erste Priorität vor allem anderen sehen.

Das sollte jedoch nicht missverstanden werden. Es ist wohl eine Lektion des Arabischen Frühlings 2011: Damals setzten die Menschen auf die Erneuerung der Systeme, eine Demokratisierung, zwar mit Druck von unten, aber doch durch sich selbst, durch den Austausch von Personen. Existierenden oppositionellen Kräften wurde zugetraut, das Steuer herumzureißen. Damit ist es 2019 vorbei. "Die primäre Gemeinsamkeit all dieser Proteste ist die Abwesenheit von Vertrauen", schreibt Marwan Muasher für das Carnegie Endowment for Peace.

Die Betonung der libanesischen Protestbewegung, dass "alle" gehen müssen, steht dafür. In der libanesischen Konkordanzdemokratie sind den konfessionellen Gruppen, unabhängig vom Wahlergebnis, institutionelle Posten zugeteilt: Da wird "Opposition" ohnehin zum relativen Begriff. Im Irak ist der "Muhassasa" genannte Modus, der die politische Macht zwischen den auch in sich zerstrittenen religiösen und ethnischen Gruppen aufteilt, nicht in der Verfassung verankert. Aber er ist ebenso schwer zu brechen wie im Libanon, wo die bewussten Gruppen ebenfalls nur für ihre eigenen Klienten sorgen.

Keine Beruhigung

Die Systeme sind selbstreferenziell und reproduzieren sich immer wieder: Sie können gar keinen völlig unabhängigen Premier hervorbringen, wie es die Demonstranten in beiden Ländern fordern. Sowohl im Libanon als auch im Irak haben weder die Rücktritte noch neue Designierungen die Menschen auf den Straßen beruhigt.

Dem Austausch von Personal stehen die Protestbewegungen des Jahres 2019 ohnehin sehr skeptisch gegenüber. Sie wissen von 2011, dass es eben nicht reicht, den Despoten zu stürzen, wenn der tiefe Staat überlebt. Dieses Wissen exerzierten die Demonstranten und, ganz wichtig, Demonstrantinnen im Sudan vor: Nach dem Abgang Omar al-Bashirs kam das große Ringen mit der neuen Militärjunta darum, wer den Übergang kontrolliert.

Denn sobald die Protestbewegung aus der Transition herausgedrängt ist, hört diese meist auf, eine Transition zu sein. Im Sudan wird nun in einer dreijährigen Übergangszeit gemeinsam regiert, dann erst soll es Wahlen geben. Ebenfalls eine Lektion von 2011: Wahlen allein, ohne entsprechenden politischen Prozess, reichen nicht. Sie werden leicht zur Falle, zum Vehikel undemokratischer Kräfte zu deren Rückkehr im neuen Gewand. Das Paradebeispiel ist Ägypten.

In Algerien haben es die Militärs durchgesetzt, gegen den Willen der Demonstrierenden Präsidentschaftswahlen abzuhalten, deren Legitimität jedoch durch diesen Widerstand äußerst gering ist. Dort hat nun der plötzliche Tod des Strippenziehers des inszenierten Übergangs, des Armeechefs Ahmed Gaid Salah, die Gleichung wieder aufgemacht. Sein Abgang, der zu Machtkämpfen im ohnehin fragmentierten Regimeapparat führen könnte, birgt Chancen, aber auch Risiken für die Protestbewegung.

Ein weiterer wichtiger Punkt ist die Gewaltlosigkeit: umso schwerer aufrechtzuerhalten, wenn, wie besonders im Irak, mit brutaler Gewalt gegen die Proteste vorgegangen wird. Wenn aus den Demonstranten "Aufständische" werden, wird das herrschende System in die Lage versetzt, die Bürgerkriegskarte zu ziehen. Das klassische Beispiel dafür ist Syrien. Dort spielte jedoch auch die Einmischung von außen eine ganz eigene Rolle: die Bewaffnung des Aufstands durch regionale Spieler, die alle möglichen Motivationslagen hatten, aber bestimmt nicht die Schaffung von Demokratie.

Die regionalen Spielchen

Diese Gefahr besteht auch heute: Wenn sich etwa die Proteste im Irak und auch im Libanon gegen den Iran richten – allzu verständlich bei der iranischen Politik der politischen Geiselnahme in der Region –, dann freut das zum Beispiel die Herrschaften in Riad: Mit Freiheit, Demokratie und Menschenrechten haben diese aber ebenso wenig am Hut wie jene im Iran.

Wobei man bei einer weiteren Gemeinsamkeit der Proteste wäre: der offensichtlichen Führungslosigkeit, mit der ja die gemeinsame nationale Identität – abseits der ethnischen und religiösen Zugehörigkeiten oder überhaupt der Frage nach Religiosität – betont werden soll. Gerade hinter dieser "Neutralität" wittern dann andere doch wieder eine Verschwörung von außen, die darauf abzielt, etwas zu beseitigen, und nicht, etwas Neues zu schaffen. Auf längere Sicht werden die Protestbewegungen deshalb ohne klare Agenda, ohne politisches Programm, ohne Führung, nicht auskommen. (Gudrun Harrer, AGENDA, 28.12.2019)