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Unmittelbar nach seiner Wahl durch das Parlament wurde Václav Havel in sein Amt eingeführt – und winkte gemeinsam mit seiner Frau Olga den Bürgerinnen und Bürgern zu, die zur Prager Burg geströmt waren.

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Aus der Gefängniszelle ins Präsidentenamt – und das in weniger als drei Monaten: Die Samtene Revolution in der ehemaligen Tschechoslowakei machte den grüblerischen Dichter Václav Havel zum politischen Senkrechtstarter. Insgesamt fünf Jahre hatte Havel als Dissident hinter Gittern verbracht, noch im Oktober 1989 war er ein letztes Mal verhaftet worden. Doch dann geriet, wie in den anderen Ländern Ostmitteleuropas, die kommunistische Diktatur ins Wanken und stürzte binnen weniger Wochen wie ein Kartenhaus in sich zusammen. Vor genau 30 Jahren schließlich, am 29. Dezember 1989, zog Havel als frisch gewähltes Staatsoberhaupt in die Prager Burg ein.

Nur drei Tage später schrieb seine erste Neujahrsansprache ein Stück Fernsehgeschichte. Der Mann, der da in seinem Arbeitszimmer hinter dem Schreibtisch saß, wirkte so ganz und gar nicht wie der strahlende Vorkämpfer einer gelungenen Revolution. Hier sprach kein TV-Profi zum Volk, sondern ein vom eigenen Politikerdasein überraschter Antiheld. Einer, der sich nicht wirklich wohlfühlt im Scheinwerferlicht und sich auch einmal räuspert, wo sonst nicht geräuspert wird. Aber auch einer, der problemlos mit den Konventionen bricht, weil er sie ohnehin nie mitgetragen hat.

Keine Schönfärberei

Havels wichtigstes Startkapital: Er hatte nie mit der Macht geklüngelt und trat nun, in der Stunde null, dennoch als Versöhner auf. Und er konnte es sich leisten, Aufbruchsstimmung zu verbreiten, ohne schönfärberisch zu sein. Der inzwischen legendäre Beginn seiner Neujahrsbotschaft 1990 gab davon einen Vorgeschmack:

"Liebe Mitbürger! 40 Jahre lang haben Sie an diesem Tag aus dem Mund meiner Vorgänger in verschiedenen Varianten stets das Gleiche gehört: wie unser Land blüht, wie viele Millionen Tonnen Stahl wir produziert haben, wie glücklich wir alle sind, wie viel Vertrauen wir in unsere Regierung haben, welch herrliche Perspektiven sich uns eröffnen. Ich nehme an, Sie haben mich nicht für dieses Amt vorgeschlagen, damit auch ich Sie anlüge."

Absurdes Regimetheater

Wer wollte, konnte aus der Rede auch Havels Leidenschaft fürs absurde Theater heraushören. Mit dessen Mitteln hatte er bereits zuvor – als Dramatiker, dessen Stücke daheim verboten und deshalb vom Wiener Burgtheater uraufgeführt wurden – das kommunistische Regime aufs Korn genommen. Dieses habe, sagte er nun als Präsident, aus mündigen Menschen "Schräubchen einer monströsen, dröhnenden und stinkenden Maschine gemacht, von der niemand mehr weiß, welchen Sinn sie eigentlich hat".

Die Samtene Revolution, die ihn an die Macht gespült hatte, sah Havel indes als gutes Vorzeichen für eine gelungene Transformation: Die Wochen seit der ersten Demonstration am 17. November hätten das "menschliche, moralische und geistige Potenzial sowie die große bürgerliche Kultur gezeigt, die in unserer Gesellschaft geschlummert haben – hinter der erzwungenen Maske der Apathie".

Zwei Strömungen

Der tschechische Politologe Jiří Pehe verfolgte all das aus seinem Münchner Exil, wo er für das Forschungsinstitut des US-Senders Radio Freies Europa als Analytiker tätig war. "In den Tagen der Wende zeichneten sich zunächst zwei mögliche Wege ab", so Pehe im Gespräch mit dem STANDARD, "ein weniger radikaler, der an die Reformen von 1968 anknüpfte, und eben ein radikalerer Bruch mit dem bisherigen Regime."

Vor allem einige Vertreter der ersten Strömung hätten sich Alexander Dubček als neuen Präsidenten gewünscht, jenen einst gescheiterten KP-Reformer, dessen Prager Frühling von den Panzern des Warschauer Pakts unter sowjetischer Führung niedergewalzt worden war. Dass sich schließlich der entschiedenere Flügel rund um Havel durchsetzte, ist für Pehe nicht zuletzt Ausdruck einer Generationenwende. Die Samtene Revolution sei eben in erster Linie von Studentinnen und Studenten getragen worden: "Das waren junge Leute, die nun nicht mehr zu den Ideen des Jahres 1968 zurückkehren wollten."

Umstrittene Transformation

Schließlich – bis zur Teilung der Tschechoslowakei sollte es noch drei Jahre dauern – wurde der Slowake Dubček Parlamentspräsident, der Tscheche Havel Staatsoberhaupt. Ab 1993 war Havel dann erster Präsident der selbstständigen Tschechischen Republik – und wurde 1998 als solcher vom Parlament wiedergewählt. Die Ära Havel auf der Prager Burg endete also erst im Februar 2003 – mehr als 13 Jahre nach der Samtenen Revolution.

Ausgerechnet an Havel, der einst als Brückenbauer den gewaltlosen Übergang zur Demokratie mitgetragen hat, scheiden sich heute die Geister. Obwohl er stets ein Gegenspieler seines neoliberalen Nachfolgers Václav Klaus war, würden viele Wende-Verlierer die beiden Václavs im Doppelpack als Symbol einer aus ihrer Sicht ungerechten Transformation sehen, glaubt Jiří Pehe.

Unangenehmer Spiegel

Außerdem habe Havel als Exdissident der Gesellschaft einen unangenehmen Spiegel vorgehalten: "Er hatte in der kommunistischen Zeit Mut bewiesen. Und obwohl er später nie damit geprahlt hat, ist das für viele, die sich mit dem Regime arrangiert hatten, ein Problem."

Havels Beliebtheit würde heute, acht Jahre nach seinem Tod, aber wieder steigen, sagt Pehe. Vor allem bei der jungen Generation: "Das sind Leute, die bereits in demokratischen Verhältnissen aufgewachsen sind. Und viele von ihnen haben das Gefühl, dass sie genau das Václav Havel verdanken." (Gerald Schubert, 29.12.2019)