Peter Rosei, einer der großen heimischen Gegenwartsautoren, weckt das Fernweh verlässlich, indem er allzu große Erwartungen dämpft. Seit 50 Jahren bereist der gelernte Jurist alle Winkel der Welt.

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Um von der Torheit des Fernwehs kuriert zu werden, bedarf es solcher Ärzte, die unser uneingeschränktes Vertrauen verdienen. Es sind stets die Dichter gewesen, die vor allen übertriebenen Anwandlungen des Tourismus gefeit geblieben sind. Autoren wissen über Risiken und Nebenwirkungen des In-die-Ferne-Schweifens vorhersehbar am besten Bescheid.

Dort, wo die Baedeker-Literatur mit ihren vorgeformten Ansichtssachen aus Übersee für gewöhnlich baden geht, erfolgt verlässlich der Einsatz der Literatur. Deren Anspruch zielt weiter: Indem sie die Welt sich nicht etwa untertan, sondern sich zu Eigen macht.

Der Wiener Autor Peter Rosei bindet insofern den Idealfall eines Ersatzreisenden. Er ist, ohne besondere Reihenfolge, unser Mann in Beijing, Fidschi, Defiance (Ohio), Detour, Istanbul, Prag, Triest oder Rom. Roseis Reiseaufsätze, mustergültig gesammelt in dem Band "Die große Straße", erweisen allen diesen Orten die Ehre. Es ist diejenige seiner physischen Anwesenheit.

Seine Schriften bilden Zeugnisse der Geistesgegenwart. Rosei, der gewissenhafte Beobachter, trachtet nicht etwa danach, sich von Überlieferung und Historie vorteilhaft abzuheben. Es ist bloß wie verhext: Dieser Weltreisende weiß es jedes Mal zuverlässig besser als die einschlägigen Reiseführer. Diese verleiden uns das Fernweh mit der Versicherung, dass es dort, wohin uns der Zufall geführt hat, schon nicht so viel anders sein wird, als wie wir es zuhause gewohnt sind. Eine fatale, letztlich feige Form, sich gegen Reisefieber zu versichern.

Viel zu kleine Welt

Rosei ist kein Snob. Er strapaziert auch keine tausend Mal breit getretenen Topoi auf den allezeit zugänglichen Karten von Google Maps: die traurigen Ausweise einer viel zu klein gewordenen Welt, die den Horizont mit sich selbst verstellt vorfindet.

Der Prosakünstler Rosei ist passionierter Reisender. Doch er bemüht keine Ausflüchte. Eher schon mutet er uns in seinen Reiseaufzeichnungen aus beinahe 50 Jahren, die meisten ein paar wenige Seiten stark, ein permanentes Schöpfungsgeschehen zu. Es mag also sein, dass Rosei sich wirklich 1992 in Guatemala aufgehalten hat, 1985 in Triest oder – man höre und staune – 1977 in Wien. Dieser notorische Unruhegeist ist zuvorkommend wie kein Reisechronist vor ihm.

Er erschafft mit fein gespitztem Bleistift unendlich zart linierte Ansichtssachen, Veduten von Städten und belebten Stellen, Plätzen, Märkten, Orten – Ruhepunkte und Strömungslinien mitten im Getriebe der Welt. In Sachen sinnlicher Registratur ist ihm wohl einzig Josef Winkler gewachsen.

Nervöser als Stifter

Wer vermeint, Adalbert Stifter hätte sich besonders nachdrücklich auf das gemächliche Vermerken von Landschaften verstanden, auf ihre Umformung, auf das Auslappen ihrer in der Tiefe des Bildhintergrundes sich verlierenden Einzelheiten: Rosei steht, was eine solche Akkuratesse begrifft, dem oberösterreichischen Genie der Langsamkeit in nichts nach.

Aber sein Geist ist zeitgenössischer, sein Temperament nervöser. Wir begegnen in jedem Augenblick einem Wahrnehmungsakrobaten, der die Bälle von Kunst, Politik und Lebensform anstrengungslos und synchron in der Luft hält. Ortserkundungen einer wechselnden Einsamkeit? Larmoyanz war die Sache Roseis (73) noch nie. Der juristisch geschulte Kopf zeigte bereits 1973 (in dem Roman "Bei schwebendem Verfahren"), was passiert, wenn eine so unwahrscheinliche Lebensform wie die der heimischen Bürokratie vor unser aller Augen in die Luft fliegt.

Heute behält Rosei eben im nachhinein Recht. Den Wirtschaftskollaps von 2008 antizipierte er, mit Blick auf das Siechtum der Automobilindustrie in den USA und die Privatverschuldung des Mittelstandes, zwei Jahre im Voraus. Das wird ihm womöglich egal sein.

Bleiben wird ohnedies eher eine Himmelserscheinung über dem Lake Michigan, wie sie derart plastisch nur Peter Rosei niederzuschreiben vermag: "…dann färbt sich die zusehends heller werdende Himmelsflüssigkeit an einer Stelle rötlich – als würde dort eine Wunde bluten." (Ronald Pohl, 30.12.2019)