Das Zeitzeugen-Setting wird in der Schau selbst zum Thema.

Foto: Dietmar Walser

75 Jahre, das ist keine extrem lange Zeitspanne. Das ist die Zeitspanne eines Menschenlebens. Es ist immer noch kaum zu glauben, dass in diesem Europa fast ohne Binnengrenzen, diesem Europa voll von Shoppingcentern, Zweitautos, Dritthandys, Überfluss und Saturiertheit, dass genau hier vor 75 Jahren noch die Hölle auf Erden war. Der Zweite Weltkrieg in der Endphase. Millionen Tote auf den Schlachtfeldern und in den Vernichtungslagern der Nationalsozialisten.

Wie war das damals? Es gibt nicht mehr viele Menschen, die man dazu befragen kann. Das Jüdische Museum Hohenems widmet sich in seiner aktuellen Ausstellung dem Ende der Zeitzeugenschaft – mit Fragezeichen. Hinterfragt werden gleich zu Beginn die Zeitzeugengespräche selbst. Wie sind diese Dokumente zustande gekommen? Inwiefern sind diese journalistischen Produkte "eine gemachte Sache"? Ein flaschengrüner Fauteuil, ein Beistelltisch mit Mikrofon und eine Beleuchterlampe setzen ein Setting für ein Interview in Szene. Auf der Wand dahinter sieht man ein Video mit Schnipseln aus Gesprächen.

Dass die Erinnerung unterschiedlichste Erzählformen kennt, erfährt man im nächsten Raum. Man stöpselt seine Kopfhörer in eine der Videosäulen ein und sieht kurze, fast zu kurze Interviewausschnitte von Menschen, die einst durch Vorarlberg in die Schweiz geflohen sind wie Eva Fligelman oder sich dort unter falschem Namen aufgehalten haben wie Hilda Leopold.

Die Geschichte der Geschichtsdarstellung

Im Hauptraum der Ausstellung entrollt sich mittels großflächiger Projektionen, Schauobjekten und Videopräsentationen eine Geschichte der Zeitzeugenschaft zu den Verbrechen des Holocaust. Die Geschichtsdarstellung beginnt mit dem Artikel "Lublin Funeral", der im August 1944 im Life Magazine veröffentlicht wurde. Frappierend: Gegenüber der Seite mit den Schwarz-Weiß-Fotos von einem Krematorium und einem Massengrab im KZ Lublin-Majdanek ist eine ganzseitige Werbeanzeige von Campbell’s Soup in Farbe platziert. Ebenfalls am Beginn der Erfassungen der Nazigräuel steht die Zentrale jüdische historische Kommission, die 1944 in Lublin gegründet wurde.

Man erfährt bald, dass die Aufarbeitung des Holocaust unterschiedliche konjunkturelle Phasen gekannt hat. War man in den 1950er-Jahren in Sachen Wiederaufbau und Wirtschaftswunder hinlänglich beschäftigt, so schufen der Prozess gegen Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem und der Frankfurter Auschwitz-Prozess in den Jahren danach eine große Aufmerksamkeit für das Thema.

"Holocaust" und "Schindlers Liste"

Ende der 1970er-Jahre brachte die Ausstrahlung der US-Fernsehserie Holocaust in Deutschland und Österreich das Ausmaß der NS-Verbrechen an der jüdischen Bevölkerung erneut ins kollektive Bewusstsein – Titelstorys der Magazine Stern und Spiegel legen davon ein buntbedrucktes Zeugnis ab. Als wirkungsmächtigste aller Fiktionalisierungen erwies sich 1993 Schindlers Liste. Eine Flut von Erinnerungspublikationen aller Art sollte auf Steven Spielbergs Oscar-prämierten Film folgen – auch solche fragwürdigen Inhalts.

Aussagen zu hinterfragen, das lernt man in der von Anika Reichwald kuratierten Ausstellung. Versteht sich diese doch auch als eine Schulung zur Distanznahme und zur Unterscheidungsfähigkeit: Der Zeitzeuge soll als Erzähler ernstgenommen, als historische Quelle aber durchaus auch kritisch betrachtet werden. (Stefan Ender, 7.1.2020)