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Grüne Funktionäre beschweren sich zu Recht darüber, dass sie über ein Programm abstimmen sollen, das sie zu diesem Zeitpunkt wohl erst zwei Tage kennen werden.

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Türkis-Grün ist eine Koalition der Extreme, zumindest wenn es um das Innenleben der Parteien geht. Während sich Sebastian Kurz bei seinem Antritt als Retter der ÖVP weitreichende Durchgriffsrechte ausbedungen hat, muss Werner Kogler bei manchen wichtigen Entscheidungen erst das Parteivolk um Erlaubnis fragen. So der Fall kommendes Wochenende: Nicht der Parteichef hat das letzte Wort über den Regierungspakt mit Kurz’ Türkisen, sondern der Bundeskongress aus 276 Delegierten, vom kleinen Bezirksfunktionär aufwärts.

Mit einem mehrheitlichen Nein ist nach derzeitigem Stand, also vor Kenntnis des Koalitionsprogramms, angesichts des quer durch die Partei verbreiteten Regierungswillens nicht zu rechnen. Doch es geht für die grüne Führung am Samstag ja nicht nur ums nackte Überleben, sondern um einen möglichst breiten Rückhalt für die heikle Liaison mit einem ehemaligen politischen Erzfeind. Die für Widerspenstigkeit berüchtigte Basis hat sich in der Vergangenheit des Öfteren als unberechenbar entpuppt – und Kogler selbst hat bereits vor dem Showdown Vertrauen untergraben.

Grüne Funktionäre beschweren sich zu Recht darüber, dass sie über ein Programm abstimmen sollen, das sie zu diesem Zeitpunkt wohl erst zwei Tage kennen werden. Nicht dass es unmöglich ist, von Donnerstag bis Samstag gut 200 Seiten – so viel soll das türkis-grüne Konvolut umfassen – zu lesen. Doch bei einmaliger Lektüre erschließt sich mitunter noch lange nicht, was substanziell hinter manch verklausulierter Formulierung steckt. Autoren von Regierungsprogrammen haben ja nicht gerade die Angewohnheit, mit dem Textmarker auf Stellen hinzuweisen, die politische Sprengkraft bergen.

Die mit erfahrenen Experten besetzte Arbeiterkammer hatte vor zwei Jahren drei Tage gebraucht, ehe sie eine fundierte Analyse des türkis-blauen Programms vorgelegte. Ähnlich lange dauerte es, bis sich mancher Aufreger herauskristallisierte. So sickerte in der Öffentlichkeit erst nach und nach dank der Bewertung durch Fachleute durch, dass sich hinter einer technokratisch verfassten Passage zur Arbeitsmarktpolitik nicht viel anderes als eine Reform nach dem berüchtigten Hartz-IV-Modell in Deutschland verbarg.

Dass sich die grünen Verhandler vor dem Kongress den Delegierten für Frage und Antwort stellen, ist löblich, aber kein echter Ersatz: Wer am Programm selbst mitgeschrieben hat, wird dieses verteidigen und bietet keine unabhängige Expertise.

Doch ist die Verpflichtung zur Abstimmung über den Pakt überhaupt klug? Es gibt bedenkenswerte Argumente gegen Basisdemokratie in derartigen Fragen. In der breiten Funktionärsmasse kann es leicht passieren, dass einzelne emotionale Fragen das große Ganze überschatten. Auf die konkrete Situation umgelegt: An einer Grauslichkeit im Fremdenrecht könnte im Extremfall der komplette Pakt scheitern – mit der Folge, dass wieder die FPÖ in die Regierung kommt und viel Schlimmeres durchsetzt.

Aber wenn sich eine Partei schon der Basisdemokratie verschrieben hat, muss sie dieses Prinzip auch sauber durchziehen – und nicht im schlampigen Eilmarsch. Fühlen sich die kleinen Funktionäre, die für die Partei gerannt sind, als eine Regierungsbeteiligung unendlich weit entfernt schien, gefrotzelt, ist der Keim für Aufruhr in koalitionären Krisenzeiten gepflanzt. Und diese kommen bestimmt. (Gerald John, 30.12.2019)