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Der gelernte Österreicher ist gleichzeitig zufrieden und skeptisch – auch wenn es um die EU-Mitgliedschaft geht.
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Die frühere Außenministerin Ursula Plassnik hat das Verhältnis Österreichs zur EU einmal so beschrieben: "Wir sind zufriedene Skeptiker." Das war 2007. Das Land hatte damals gerade ein Dutzend Jahre als Mitglied der Gemeinschaft hinter sich gebracht – quasi die Halbzeit aus heutiger Sicht zum 25. Jahrestag des EU-Beitritts der Republik am 1. Jänner 1995.

Auf den ersten Blick klingt die Bemerkung der Ex-ÖVP-Politikerin überraschend. Sie war (und ist) eine enge Vertraute von Wolfgang Schüssel, eines tief überzeugten Proeuropäers, der langjähriger Bundeskanzler einer schwarz-blauen Koalition mit dem Anti-EU-Populisten Jörg Haider ab dem Jahr 2000 war.

Als Schüssels sozialdemokratischer Nachfolger Werner Faymann 2008 seinen berüchtigten EU-skeptischen "Unterwerfungsbrief" an den Krone-Zaren Hans Dichand schrieb, hielt sie mutig-wütend dagegen – bis zum Amtsverlust. Sie war das erste sichtbare Opfer von jenen, die sich ihres Verhältnisses zur EU plötzlich nicht mehr sicher waren, auch wenn die regierende große Koalition noch nicht sagte, dass sie sich "eine schlankere Europäische Union" (Sebastian Kurz, 2018) wünsche.

Heute erscheint Plassniks Aussage von 2007 wie die perfekte Beschreibung und Prophezeiung einer längeren Entwicklung: Es ist die Geschichte einer langsamen politischen Ernüchterung und Entfremdung, explizit auf Regierungsebene. Eine widersprüchliche heimische EU-Zeitgeschichte voller Wendungen, Drehungen, Widersprüche der Parteien. Anders als etwa die Beneluxstaaten präsentiert sich Österreich seit langem nicht mehr als "Kernland" der Union, als "siebentes Gründungsland", wie es unter dem Beitrittsaußenminister und "Mister Europa" Alois Mock (ÖVP) noch tönte.

Keine großen Feiern

Es ist wohl kein Zufall, dass es in diesen Tagen zum EU-Jubiläum keine großen Feiern oder Symposien gibt, die sich mit den großen Zukunftsfragen von Österreich und Europa beschäftigen. So war das auch beim "EU-Zwanziger" vor fünf Jahren unter Faymann. Ende 2019 verwaltet die Übergangsregierung von Brigitte Bierlein friedlich vor sich hin, während in Brüssel eine neue EU-Kommission unter Präsidentin Ursula von der Leyen antrat und ein vor allem in Fragen von Klima und Globalisierung ambitioniertes Programm vorlegte. Europa spielt in der geistigen öffentlichen Debatte im Moment keine Rolle – auch nicht an den Universitäten.

Zufälligerweise wird in Wien gerade auch eine neue Regierung gebildet. Von Europa war dabei bisher nur wenig die Rede, weder positiv noch negativ.

Typisch österreichische Ambivalenz

Zufrieden und skeptisch zugleich zu sein: Das zeugt von einer gewissen Zerrissenheit, von Ambivalenz. Man will sich nicht für einen Weg entscheiden. Das können vor allem Österreicher gut, die es sich nach dem Zweiten Weltkrieg zwischen den beiden Machtblöcken, zwischen Warschauer Pakt und dem "freien Westen" von EG und Nato, in einem kleinen neutralen Industrieland lang gut eingerichtet hatten.

Man versuchte, gute Geschäfte mit beiden Seiten zu machen, bis es nicht mehr ging und die verstaatlichte Industrie beinahe pleiteging. Man wollte und konnte sich bis Mitte der 1980er-Jahre lange nicht entscheiden, welchen Kurs Österreich nehmen sollte – bis in der SPÖ die oft verklärte "Ära Kreisky" zu Ende ging und der moderne Sozialdemokrat Franz Vranitzky die Zeichen der Zeit erkannte. Gemeinsam mit seinem Koalitionspartner Mock leitete er den EG-Beitrittsprozess ein (siehe Artikel links). In der neutralitätsverliebten SPÖ kam das einer Revolution gleich, denn die EG galt wie die Nato als transatlantisches Bündnis.

Die ÖVP tat sich trotz der skeptischen Bauern leichter. Haider wendete die FPÖ, die 1981 als Erste noch für den EG-Beitritt geworben hatte, zur vehementen Anti-Europa-Partei, die gegen den EU-Beitritt kampagnisierte – so wie die Grünen, die sich erst mit dem Beitritt zur proeuropäischen Partei erklärten. Viele Wendungen also.

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Der 24. Juni 1994 war ein Höhepunkt in der Karriere des gesundheitlich bereits gezeichneten Außenministers Alois Mock: Er unterzeichnete gemeinsam mit Bundeskanzler Franz Vranitzky (li.) den EU-Beitrittsvertrag.
Foto: APA/picturedesk.com/Georges Schneider

Vranitzky und Mock, die beiden waren Visionäre – und eben nicht ambivalent, als es – schon vor dem Fall des Eisernen Vorhangs, den niemand voraus sehen konnte – um große Weichenstellungen für die Zukunft des Landes ging. Gibt es solche auch heute in der Politik? Auslöser damals: Die Zwölfergemeinschaft hatte das Konzept des künftigen Binnenmarkts, der offenen Grenzen angeworfen; und zwar bereits 1987 auch mit dem Ziel, eine Währungsunion zu schaffen. Ein riesiger Wurf für den Kontinent. Und für Österreich.

Mit den Umbrüchen 1989 rückte das Land plötzlich ins Zentrum eines turbulenten Kontinents. Im zerfallenden Ex-Jugoslawien tobten bis 1999 vier Kriege mit zigtausend Toten und Millionen Flüchtlingen. Aber, für die jüngste Generation heute kaum vorstellbar: Jenseits dieses Krieges mitten in Europa wurden die zwölf EU-Länder und zwölf Beitrittswerber geradezu von einer allgemeinen Euphorie von Integration und Erweiterung erfasst. Ostöffnung, EU-Erweiterung, Binnenmarkt, Währungsunion brachten mehr Wachstum und Wohlstand – um den Preis gewaltiger Umwälzungen, von denen viele profitierten, sehr viele aber darunter auch litten.

Kurzlebige Europa-Euphorie

Das galt naturgemäß auch für das Industrieland Österreich, das wirtschaftlich bis 1995 sehr eng an Deutschland angelehnt war, nicht nur bei den Exporten. Denn die nationale Währung Schilling war de facto an die D-Mark gekoppelt. In den 1990er-Jahren konnte es für viele gar nicht genug Europa geben. Der Beitritt und die Anpassungen an das EU-Regelwerk wirkten reformerisch wie vier Regierungsprogramme auf einmal. Es wurde modern, für die unangenehmen Dinge "Brüssel" verantwortlich zu machen, während diverse Regierungen die Vorteile sich selber zuschrieben.

Die sehr überschaubare Zwölfergemeinschaft im "freien Westen", der man am 1. Jänner 1995 beigetreten war, wuchs 2004 und 2007 in zwei Erweiterungsrunden Richtung Mittel- und Osteuropa auf schwer steuerbare 27 Staaten an. Die internen Probleme der Gemeinschaft wuchsen.

Der Absturz 2008 mit der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise verstärkte die Europaskepsis nun auch in weiten Teilen der Union. Rechtsextreme und EU-skeptische Parteien stiegen überall auf. Es gelang zwar noch, 2009 den "EU-Vertrag von Lissabon" auf den Weg zu bringen, wichtige Politikfelder (wie die innere Sicherheit) mehr zu vergemeinschaften, neue Entscheidungsmechanismen einzuführen. Aber seit gut einem Jahrzehnt mit wachsenden globalen Problemen und heißen Krisen und Kriegen in Europas Nachbarschaft dümpelt die Gemeinschaft dahin, erschöpft sie sich in Minireformen und internen Konflikten.

Auch Jean-Claude Junckers "Kommission der letzten Chance" brachte unterm Strich nicht viel weiter, verhinderte in der Eurokrise wenigstens das Schlimmste, wie der Expräsident selber sagte. Ihm bliesen die Migrationskrise 2015 und seit 2016 der Brexit um die Ohren – mit tiefgreifenden Veränderungen auch für den Rest der EU.

Nicht zuletzt das wäre für Österreich, das verhinderte "Kernland" der EU, lange 25 Jahre nach dem Beitritt eine gute Gelegenheit, seine eigene Rolle neu zu überdenken. Das Land wird – wiederum wegen seiner zentralen Lage auf dem Kontinent – von alldem ganz besonders betroffen sein, im Positiven wie im Negativen, wie schon 1989. Wir kommen nicht aus. Die Zeit der "Insel der Seligen" ist schon lange vorbei. In Zeiten von Klimawandel, Digitalisierung und globalen Mächteverschiebungen kann es kaum noch kleine "nationale Lösungen" in Europa geben.

Um das zu erkennen, müssten die neue Bundesregierung und die Parteien im Parlament sowohl die Zufriedenheit mit dem Status quo wie auch die Skepsis in Bezug auf das gemeinsame Europa aufgeben. Ein Blick in die jüngere Geschichte beweist, dass ein kleines, hochindustrialisiertes Land damit sehr gut fahren kann, wenn es rechtzeitig richtungsweisende Entscheidungen trifft.

Der EU-Beitritt 1995, die damalige Bereitschaft zur Öffnung, war eine solche, ohne Zweifel. Ein Blick auf Grunddaten der Wirtschaftsentwicklung seit 1989 bestätigt das, wie das Wirtschaftsforschungsinstitut jüngst aufzeigte. Es prüfte die Frage, ob das Versprechen der früheren EU-Staatssekretärin Brigitte Ederer (SPÖ) 1994 eingelöst wurde, wonach im Schnitt jeder Haushalt mit 73 Euro (tausend Schilling) profitieren würde. Ergebnis: Der "Ederer-Tausender" wurde sogar noch übertroffen.

Mehr "Europäisierung" nötig

Eine ältere Studie der Wiener Wirtschaftsuniversität hat den Wohlstandszuwachs, den Österreich durch Ostöffnung, Teilnahme am Binnenmarkt, durch EU-Mitgliedschaft, Währungsunion und Osterweiterung erfahren hat, ebenfalls errechnet. Demnach ist Österreichs Wirtschaft um 0,5 bis ein Prozent mehr gewachsen, als sie ohne Kombination all dieser Entwicklungen gewachsen wäre.

Das bedeutet natürlich nicht, dass alle Bürger und Schichten davon profitiert haben, dass es keine Verlierer gibt. Wie dieser Wohlstand gerechter verteilt wird, nicht nur in Österreich, sondern in der ganzen Union, dafür müsste man in einem weiteren Schritt der "Europäisierung" sorgen.

Kurz gesagt: Das erfordert weitere Reformen – eben nicht nur auf nationaler Ebene, sondern im europäischen Konzert. Jedes Land muss für sich entscheiden, ob und wie es daran teilnimmt – und letztlich, ob man sich einen europäischen Mehrwert etwas kosten lässt.