Machte praktisch auf jedem Foto eine gute Figur: Miles Davis.

Foto: polyfilm

Der coolste Mensch dieses Planeten stand vor dem Birdland in New York und rauchte friedlich eine Zigarette. Der weiße Polizist bedeutete Miles Davis, er solle vom Eingang des Clubs verschwinden. Miles war zu diesem Zeitpunkt der beispielgebende Trompeter des Jazz. Sein cooler Ton, "romantisch, aber nie sentimental", wie es einmal in Stanley Nelsons famoser Filmdokumentation Birth of the Cool heißt, ging allen Hörern durch und durch.

Er hatte wenige Wochen zuvor, im April 1959, Kind of Blue aufgenommen, das sanft pulsierende Manifest der modalen Spielweise. Weltberühmt für jedermann, der auch nur einmal den pumpenden Basslauf von Paul Chambers in So What gehört hat.

Der Geist des Fortschritts schien in dieser Musik perfekt verkörpert. Ihre Leidenschaft wurde aufgesogen und in perfektes Muskelspiel übersetzt. Kind of Blue enthält die betörende Absage an jede Form von Anstrengung: Die Musik dieses Albums ist geläutert: reiner, unverschnittener Stoff. Die Motive von Miles, Bill Evans (Piano) und John Coltrane (Saxofon) erinnern an den Tragekomfort von Anzügen, die auf den trainierten Leib geschnitten sind.

Heroinsucht wird er los

Vorbei die Zeit, als der Absolvent der New Yorker Juilliard School über Partituren von Strawinsky und Co saß. Man weiß nicht, ob der Bleistift länger ist oder die Zigarette, die er zeitgleich in der anderen Hand hält. Immerzu wirkt Miles Davis konzentrierter als die anderen. Die üble Heroinsucht wird er mit Willensstärke los. Das Tontaubenschießen der Bebopper wie Dizzy Gillespie gewöhnt er sich beizeiten ab. Weniger Töne sagen mehr aus.

Überhaupt schien ihm alles federleicht von der Hand zu gehen, dem Zahnarztsohn aus East St. Louis, dessen tonlos röchelnde Stimme zum Markenzeichen wurde. Man konnte den kauzigen Weltstar Miles auch belächeln: später, während seines x-ten Frühlings, als er der Weltjugend mit wehmütiger Trompete zum elektrisch verstärkten Tanz aufspielte. Als er mit dem Rücken zum Publikum stand und ein paar Chiffren herausstieß, als ob ein Zeichner Krakeleien zu Papier brächte. Fast jedes der Kürzel war genial.

Der Geist des Fortschritts schien in Miles Davis' Musik perfekt verkörpert.
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Doch die Schlüsselsekunde, die Werk und Leben dieses Jahrhundertgenies erklären hilft, passierte 1959, vor dem Birdland. Miles bedeutet dem reizbaren weißen Ordnungshüter, dass er selbst der Star ist, der in dem Club für Amerikas Hipster aufspielt. "Ich bin Miles Davis, und wer sind Sie?" – Sekunden später ist Davis’ heller Anzug mit Blut befleckt. Er muss mit auf die Polizeiwache. Stanley Nelsons Erzählung nimmt dann Fahrt auf, wenn er aus den überlieferten Schwarzweißfotos Sequenzen bildet. Wir sehen: Miles Davis macht auf praktisch jedem Foto gute Figur. Seine Lieblingsimago ist das des Boxers: Federgewicht. Geschmeidig genug, um unter jedem Schicksalsschlag wegzutauchen.

Manche Bilder zeigen aber auch die Ärgerlichkeit im Antlitz des Trompeters. Miles’ kalte Wut ist die Maske der Scham. Einer der zahlreichen Zeitzeugen, die Nelson aufgeboten hat, äußert den vielleicht zentralen Satz der Dokumentation: Berühmtheit, Coolness, die bella figura des gewerbsmäßigen Hipsters – sie alle feien nicht gegen die Ergebnisse des US-amerikanischen Rassismus.

Unangenehme Wesenszüge

Das Tarngewand, mit dem Miles Davis die eigene Verletzlichkeit kaschiert, hängt gleichsam in Fetzen herunter. Kollegen wie Jimmy Cobb oder Jimmy Heath können ob der unangenehmen Wesenszüge, die Miles in ausreichendem Maß besaß, oft nur die Achseln zucken. Hass, die schlimmste Mitgift des Rassismus, erzeugt Selbsthass.

Davis selbst versagte sich jeden Anflug von Sentimentalität. Miles ahead hieß nicht nur das erste seiner formidablen Alben, die er gemeinsam mit Klangimpressionist Gil Evans aufnahm. Die seltsam verschobene Idee, eine Welt, die unrecht hat und voller Gewalt steckt, übertrumpfen zu müssen, um so wenigstens einigermaßen mit ihr Schritt halten zu können – sie trieb Miles bis an die Grenzen und darüber hinaus.

Wenn er musikalisch für einmal nicht mehr weiterwusste, mussten es andere für ihn richten. Man sieht den jungen, 17-jährigen Tony Williams verzückt die Crashbecken bearbeiten. Der Schlagzeuger von Miles’ zweitem Quintett wurde ins tiefe Wasser geworfen. Schwimmen lernte er selbst. Das Genie selbst kam mit "Musical Sketches" um die Ecke: "Jeder tut, was er glaubt!"

Und so sieht man Miles Davis ein einziges Mal verschmitzt. Man schreibt die 1970er-Jahre. Der Meister des "Cool" elektrifiziert seine Musik, unter anderem um bei den Rockhörern anzudocken. Er klaut der Generation nach Jimi Hendrix den Funk, den E-Bass, das Rockschlagzeug. Er verkauft unglaublich viele Platten. Davis lächelt schelmisch: "Ich fühle mich wie ein Dieb!" In solchen Augenblicken scheint Stanley Nelsons Film zu schweben. (Ronald Pohl, 2.1.2020)