Im Gastkommentar erläutert der ehemalige ÖVP-Politiker Andreas Khol, was heute anders ist als 2002. Der Bildungswissenschafter und Psychoanalytiker Josef Christian Aigner sieht die türkis-grüne Einigung skeptisch.

Für Sebastian Kurz und Werner Kogler begann das neue Jahr mit Koalitionsverhandlungen – der letzten Runde vor der Präsentation des Regierungsprogramms.
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Die Wahlen 2002 brachten eine Regierungsmehrheit von ÖVP und Grünen. Wolfgang Schüssel und Alexander Van der Bellen und ihre Teams bemühten sich redlich und scheiterten: Budgetpfad, Pensionen, Abfangjäger, Regierungsdisziplin im Parlament – vorgeschlagene Lösungen fanden keine Mehrheit bei der grünen Basis. Beide Parteien schrumpften, die Kluft wurde immer größer. Zwei politische Kulturen stießen heftig aufeinander. Hie die "nahezu rechtsextreme Schnöselpartie", da die "alles besser wissenden dogmatisierten Grünmoralisten". Bis zu den Wahlen 2019 schien eine Zusammenarbeit der beiden Parteien unmöglich. Und nun soll plötzlich Unmögliches doch möglich werden? Budget, Pensionen, Abfangjäger, Parlamentszusammenarbeit: Die Probleme sind die gleichen, neue dazugekommen! Was hat die Nationalratswahl 2019 so grundlegend verändert, dass zusammen regieren könnte, was sich bisher unversöhnlich bekämpfte?

Tornado des Umbruchs

Die Wahl im Herbst 2019 brachte einen Tornado des Umbruchs. SPÖ und FPÖ verloren stark, ÖVP und Grüne gewannen ebenso kräftig. Plötzlich wurde die Zusammenarbeit der Grünen mit der ÖVP zur einzigen erfolgversprechenden Regierungsmöglichkeit. Aus der sozialen Marktwirtschaft soll eine ökosoziale werden!

Die sieben Hauptgründe dafür erscheinen mir klar:

1. Beide Parteien, unbestrittene Wahlsieger, haben erstmals seit 2002 zusammen wieder eine Mehrheit im Nationalrat. Die Linksparteien haben auch mit den Neos zusammen keine Mehrheit.

Starke Parteichefs

2. ÖVP und Grüne haben sich schon vor der Wahl neu aufgestellt und werden von ungewöhnlich starken Parteichefs geführt. Sebastian Kurz wurde nicht durch seine radikale Parteireform zum starken Obmann, entscheidend war seine charismatische Führungsrolle. Werner Kogler wurde ebenso stark, weil er die zur Asche gewordene Partei zum Phönix machen konnte. Dabei zeigte er unerwartete menschliche und organisatorische Führungsqualitäten.

3. Beide Parteiobleute konnten ihre "verdienten" Altpolitiker ohne Wirbel in den Ruhestand senden. Manche von ihnen wirkten aus dem Hinterhalt als Sprengmeister oder wurden zu solchen. An ihre Stelle traten neue und vor allem sehr junge Frauen und Männer – von den Parteichefs ausgewählt, nicht von den Parteigranden entsandt.

Großer Themenwechsel

4. Entscheidend war der ganz Europa erfassende Themawechsel: Alternative Gesellschaftspolitik und linke Sozialpolitik (rote Tücher für die ÖVP) wurde von den neuen Grünen durch Klimaschutz ersetzt (für die ÖVP Teil der ökosozialen Marktwirtschaft). Beide fordern schon lange eine Demokratiereform im Zeichen der Transparenz. Eine ökosoziale Steuerreform macht den Grünen die Budgetdisziplin annehmbar, und auch die Migrationspolitik ist in ihrem neuen europäischen Rahmen für die Grünen vertretbar, wenn sie ein menschlicheres Antlitz bekommt.

Keine Alternativen

5. Die ÖVP hat keine Alternative: Die FPÖ versinkt im Kriminalitätsstrudel; ihr Schicksal bestimmen die Gerichte. Daran ist nur sie schuld. Auch die SPÖ hat sich als Partner selbst versenkt: Man jagt den Chef der Partei, mit der man 65 Jahre zusammenarbeitete, nicht ungestraft mit einem Misstrauensvotum davon (und treibt ihm damit circa vier Prozent SPÖ-Wähler zu)! Franz Vranitzky sagt: "Die SPÖ muss sich neu aufstellen."

Auch die Grünen haben nur schlechte Alternativen. Scheitert die Regierungsbeteiligung, prasseln die Vorwürfe auf sie nieder: neuerlich den Mut verloren; an den eigenen Widersprüchen gescheitert; kompromissunfähig; über kleinliche ideologische Forderungen das große Ziel verraten – den Klimaschutz; die FPÖ wieder in die Regierung geholt und: wieder Opposition für die nächsten zehn Jahre.

Kein Proporz

6. Thematisch scheint es neue klare Schwerpunkte zu geben, in denen sich beide Parteien wiederfinden. Auch die Verteilung der Ministerien ist großzügig, folgt nicht mathematischem Proporz. So wird vielleicht Zusammenarbeit auf Augenhöhe und mit geordneter Kommunikation möglich.

7. Die Führungsstäbe scheinen gemeinsam Probleme lösen zu können. Parteiobleute, Klubobleute, Generalsekretäre und zukünftige Regierungsmitglieder wollen gemeinsam Österreich verändern, so scheint es. Der hinterhältige, ständige Streit hatte die mittelgroße Koalition von SPÖ und ÖVP zur von vielen verachteten Streitkoalition gemacht.

Mühen der Ebene

Die sich abzeichnende Zusammenarbeit sprengt das bisher bestimmende Links-rechts-Schema. Die soziale Marktwirtschaft und der Sozialstaat sind nicht mehr umstritten. Es sind andere, neue Sachfragen, die Lösungen ohne ideologische Scheuklappen verlangen: Klimaschutz, Migration, Digitalisierung, Bildungsreform und anderes mehr.

Noch sind die dafür gefundenen Lösungen weder bekannt noch beschlossen. Auch ein Scheitern ist jetzt oder später jederzeit möglich. Die Mühen der Ebene kommen erst: Wie können Grüne auf ihre bisherigen parlamentarischen Lieblingsbeschäftigungen verzichten – dringliche Anfragen, Untersuchungsausschüsse, eigene Anträge? Eine neue türkis-grüne Regierung muss erst den Praxistest bestehen. Napoleons Mutter Laetitia sagte angesichts der ersten Siege ihres Sohnes einst skeptisch "Pourvu que ca dure!" – freizügig übersetzt: großartig, vorausgesetzt, dass es so weitergeht.

Ein Zukunftsmodell?

Manche sehr selbstbewusste Österreicher sprechen schon heute von einem Modell für Europa. Das ist voreilige politische Großmannssucht. Türkis-Grün wird allerdings beim deutschen Nachbarn aufmerksam verfolgt. Dort ist man ja zum Schaden des Landes dem österreichischen Beispiel einer großen Koalition gefolgt, die sich so wie in Österreich zur Streitkoalition entwickelt hat. Die Christdemokraten vollzogen einen schleichenden Wandel nach links und machten damit Raum für die Rechten. Die SPD ist sich wie die SPÖ nicht mehr klar, ob sie eine Volkspartei links der Mitte nach dem Modell von Tony Blair und Gerhard Schröder sein soll oder eine neue Linkspartei nach dem Modell von Jeremy Corbyn und Oskar Lafontaine. Beide deutsche Volksparteien schrumpfen dabei rasant.

Wird auch in Deutschland Schwarz-Grün zur realistischen Zukunftsperspektive? Wenn das österreichische Wagnis erfolgreich bestehen kann, strahlt es sicher auch nach Deutschland aus. (Andreas Khol, 2.1.2020)