Drei Jahrzehnte chinesischer Geschichte, komprimiert im Schicksal zweier Familien: Yong Mei und Wang Jingchun wurden für ihre Darstellung ausgezeichnet.

Foto: Filmladen

Dreißig Jahre, eine lange Zeit. Und keine leichte Aufgabe, die sich der chinesische Regisseur Wang Xiaoshuai (Beijing Bicycle) vorgenommen hat: Er muss in seinem über drei Stunden währenden Epos Bis dann, mein Sohn Jahrzehnte ineinander verschmelzen lassen und sie dennoch unterscheidbar halten. Muss einen Fluss herstellen, der historische Zusammenhänge vermittelt und sich trotzdem nicht als rein lineare Abfolge versteht.

Ein leuchtend rotes Kleid, orangene Limonade, Thermoskannen mit heißem Wasser – von den 80ern bis in die 2000er-Jahre zeigen derlei Objekte an, dass Zeit vergangen ist.

Mehr: Sie markieren Zufälle, Überlagerungen und Erinnerungen. Oder: Eine Toastbrotscheibe in Bis dann, mein Sohn ist nie nur eine Toastbrotscheibe; ein Gameboy nie nur ein Gameboy. Konzentration ist geboten, denn: Wang Xiaoshuai arbeitet genau, aber subtil. Vielleicht auch suchend: "Wir tasten uns im Dunkeln vor", beschrieb er einmal seinen Umgang und den verwandter Regisseure mit gesellschaftlicher Realität in China. Es geschieht viel in Bis dann, mein Sohn – aber es geschieht nahezu unsichtbar.

Staatliche Metallfabrik

Der zeitliche Ausgangspunkt immerhin kommt bräunlich-gräulich wie klar daher: eine staatliche Metallfabrik im Norden des Landes samt angeschlossenem Wohnblock Anfang der Achtziger. Hier werden, inmitten eines konformen Schaffens und harmlosen Feierlichkeiten nach Feierabend, zwei männliche Kinder geboren: Xingxing und Haohao. Wie im Märchen am selben Tag. Die Eltern heißen Liyun und Yaojun sowie Haiyan und Yingming, und sie sind befreundet.

Auf gleicher Ebene agieren sie trotzdem nicht. Während Xingxings Eltern, Liyun und Yaojun, Arbeiter sind, wenn auch im Falle Yaojuns mit höherer Ausbildung, wird Haiyan eine zusätzliche Funktion zuteil: Sie überwacht im Betrieb die strenge Ein-Kind-Politik des Staates.

Als 1986 Liyuns bereits weit fortgeschrittene zweite Schwangerschaft auffliegt, verlädt Haiyan sie kurzerhand auf einen Transporter und zwingt sie in einer Klinik zum Schwangerschaftsabbruch. Wenig später wird Liyun und Yaojun ein Preis für vorbildliches Verhalten verliehen.

Ein zynischer, brutaler Umgang, der tiefe Wunden hinterlässt. Wunden, die im Fortlauf der Geschichte – das Ende der Planwirtschaft in den 90er-Jahren und der Unfalltod Xingxings zur gleichen Zeit – allerdings bandagiert erscheinen. Aus der Not heraus.

So rasant verlaufen die Ereignisse, so rasch entwickeln sich die befreundeten Familien auseinander: Wohingegen eine nach der Proklamation "No more iron rice balls!" einen Neustart im sich privatisierenden China versucht (und damit überaus erfolgreich ist), zieht es die andere in den fernen Süden des Landes, in die Provinz Fujan.

Den hiesigen Dialekt verstehen Liyun und Yaojun zwar nicht, aber für sie ist es ein Leben fernab des sich ausbreitenden Turbokapitalismus – und vielleicht auch des unangetasteten Schmerzes, den sie mit dem Norden verbinden. Es ist eine intime, nichtsdestoweniger triste Welt, aus der Wang Xiaoshuai berichtet. Zärtliche Gefühle hegt er für Liyun und Yaojun, denen er die größte Aufmerksamkeit schenkt.

Große Präsenz

Ihre Darsteller Yong Mei und Wang Jingchun schleppen ihren versteckten Kummer mit großer Präsenz durch die Dekaden – und wurden auf der Berlinale dafür jeweils zurecht mit einem Silbernen Bären bedacht.

Sie verkörpern jene, die den großen chinesischen Aufschwung nicht mitgemacht haben. Damit fügen sie sich gut in das Werk von Regisseur Wang Xiaoshuai. Denn obwohl der Film eine eindeutige und teure Großproduktion ist, verliert sie sich nicht in epischer Länge und Breite, denn man muss wach bleiben. Eine Botschaft, die sich nach drei Stunden übertragen hat. (Carolin Weidner, 3.1.2020)