Im Gastkommentar sieht der Bildungswissenschafter und Psychoanalytiker Josef Christian Aigner die türkis-grüne Einigung skeptisch. Kolportierte türkise Grausigkeiten im Regierungsprogramm könnten zu einer grünen Totalverbiegung oder Konflikten mit Sprengkraft führen. In einem weiteren Gastkommentar widmet sich der frühere ÖVP-Klubobmann Andreas Khol der Frage: Wird Unmögliches doch möglich? Und Barbara Blaha vom Momentum Institut, ob die kommenden türkis-grünen Jahre fünf verlorene sein könnten.

Das Regierungsprogramm ist zwar in trockenen Tüchern – Koalitionsknatsch scheint dennoch programmiert zu sein.
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Es ist Neujahrstag 2020, 17 Uhr. In diesen Minuten treffen sich die türkisen und grünen Verhandlerinnen und Verhandler im Winterpalais in der Wiener Himmelpfortgasse, um ihre Koalition zu finalisieren. Bravo! Wirklich? Hochgefühle? Bei vielen kritischen, besorgten, engagierten Beobachterinnen und Beobachtern hingegen dominiert Bauchweh, und zwar kein leichtes. Warum?

Da auch die Türen des Winterpalais wie alle Türen auf der Welt nie ganz dicht sind, wusste man seit Wochen, dass und wie die türkisen Verhandlerinnen und Verhandler ihre festgefahrenen Anliegen unerbittlich durchzusetzen versuchten, meist mit dem einfältigen Argument, man sei von 37 Prozent der Wählerinnen und Wähler dafür gewählt worden. Einfältig ist das deshalb – und verrät den Kurz’schen Alleinherrschaftsanspruch –, weil die Wählerinnen und Wähler über Parteien, nicht über notwendige Kompromisse in Koalitionspakten abgestimmt hatten. Und dass nichts, was unter Türkis-Blau beschlossen worden war, zurückgenommen werde, ist ein anderer selbstherrlicher Affront gegenüber dem kleineren Verhandlungspartner.

Beinhartes Kräftespiel

Anfangs schien von außen gesehen zwar das gute Gesprächsklima die Verhandlerinnen und Verhandler selbst glaubhaft zu beeindrucken – vielleicht war das aber auch nur die Eintrittskarte in das beinharte Kräftespiel, das Sebastian Kurz hier aufgezogen zu haben scheint. Jeder, der schon einmal mit Andersdenkenden verhandelt hat, kennt die Dynamik, die sich auch zwischen sehr gegensätzlich gesinnten Personen in Situationen des Sich-näher-Kommens entwickelt (gemeinsame Aufgabe, "Verantwortung" et cetera). Zudem soll auch unser aller HBP Alexander Van der Bellen Druck gemacht haben abzuschließen.

Was allein bis jetzt auch öffentlich bekannt wurde, spricht jedenfalls in keiner Weise für eine entscheidende Berücksichtigung zentraler Anliegen grüner Politik. So sind die machtvollsten Ministerien natürlich in Kurzens Hand, während thematisch zu Grün passende Ressorts wie Umwelt/Verkehr oder Soziales/Gesundheit um ganz wesentliche Teile beschnitten und diese der ÖVP zugeschanzt wurden, in erster Linie bestimmte Land- und Forstwirtschaftsagenden und der wichtige AMS-Bereich. Dazu kommt, dass die Grünen selbst anscheinend auf den wichtigen Staatssekretär im Finanzministerium verzichten, weil der dazu hochqualifizierte Mitverhandler Josef Meichenitsch ein Mann sei, was den grünen Vorgaben für das Geschlechterverhältnis widerspreche – ein sachlich kaum nachvollziehbarer Akt von Genderideologie!

Übern-Tisch-Zieherei

Auch die lobpreisende Nominierung des ÖVP-Generals Karl Nehammer als Innenminister, weil er für einen "harten Kurs" in Migrationsfragen stehe, ist ein Hohn gegenüber den Grünen. Dass den Grünen auch die Frauenagenden wie sämtliche Europaanliegen aus der Hand genommen wurden, fügt sich gut in diese Übern-Tisch-Zieherei ein.

Wenn jemand übern Tisch gezogen wird, braucht’s auch jemanden, der das mit sich machen lässt. Freilich war niemand, der die Vorgänge kommentiert, bei den Verhandlungen dabei, aber allein die nervöse Agitation der grünen Spitze in den letzten Tagen und die gegenüber der Basis geübte Herrschaftsattitüde sind der Ökopartei unwürdig. So ist es mehr als seltsam, dass entsprechende Kritik aus den Ländern via Social Media oder Telefon schroff zurückgewiesen wird. Warum? Wovor haben die Verhandlerinnen und Verhandler Angst? Dass jedenfalls Mitglieder des Bundeskongresses das Koalitionspapier erst wenige Stunden vor der Abstimmung darüber erhalten sollten, würde mich als Delegierten auch zur Weißglut treiben. Husch-Pfusch war noch nie gut, schon gar nicht im Rahmen der Verantwortungsübernahme an der Spitze eines Staates.

Türkise Grausigkeiten ...

Wenn es so sein wird, wie es durch die Türritzen des Winterpalais drang, dass nämlich jede Menge Grausigkeiten für grün Gesinnte im Pakt stehen werden, dann muss man sich vergegenwärtigen, dass die Ministerratsentscheidungen, die ja einstimmig erfolgen und von allen vier grünen Ministerinnen und Ministern mitgetragen werden müssen, entweder zur Totalverbiegung dieser vier oder aber zu Konflikten mit Sprengkraft führen werden. Auch der schmale Stimmenüberhang im Parlament, wo keine fünf Grünen bei türkis-grünem Dissens "umfallen" dürfen, ist eine pikante Angelegenheit. Was passiert etwa, wenn gewohnt harte türkise Beschlüsse zur Sozialhilfe oder zur Behandlung von Flüchtenden fallen, obwohl es in Ländern mit grüner Regierungsbeteiligung menschlicher zugeht? Wie werden grüne Landes-, Basis- oder Vorfeldorganisationen auf derlei türkise Grausigkeiten reagieren? Das kann ja lustig werden und zeigt: Eine Zustimmung des Grünen Bundeskongresses, egal ob knapp oder deutlich, löst keines der genannten Probleme.

... und grüne Tüpfelchen

Ja, es ist gut, dass die Blauen von den Schalthebeln der Regierung weg sind. Aber was ist der Preis für die Grünen? Bleibt die vom Finanz- und Wirtschaftsministerium sicher genau beobachtete – und bei Bedarf wohl behinderte – Klimapolitik das einzige Markenzeichen der Grünen? Bleiben mit dem Kultur- und dem beschnittenen Sozialministerium zusätzlich nur noch ein paar grüne Tüpfelchen auf einem an sich neoliberal-rechtskonservativen Programm, das weiterführt, was Kurz und seine "Buberl-und-Mäderl-Partie" schon seit Jahren vorgemacht haben? Bleibt nur, was ich mir vor jeder Verlautbarung einer Einigung und eines Koalitionspakts sehr wünsche: dass ich mich gründlich getäuscht habe. (3.1.2020)