Wien – Die Reaktionen auf das türkis-grüne Regierungsprogramm haben nicht lange auf sich warten lassen: Die Opposition sieht zwar einige positive Aspekte, kritisiert aber vage Formulierungen und fehlende Gegenfinanzierungen von geplanten Maßnahmen. Uneinig sind sich die Parteien, ob das Regierungsprogramm nun eine überwiegend grüne oder türkise Handschrift trägt: Während die FPÖ einen Linksdrift beklagt, wollen SPÖ und Neos eine Dominanz der ÖVP erkennen.

Zustimmung erhielt das Programm hingegen von der Industrie. Die Einigung sei "zu begrüßen", so Georg Kapsch, Präsident der Industriellenvereinigung (IV). Auch die Umweltschutzorganisationen zeigten sich in einer ersten Reaktion erfreut. Die Attribute reichen von "ökologischer Trendwende" bis hin zu einem "Riesenschritt für den Klima- und Umweltschutz". Auch sie vermissen allerdings konkrete Maßnahmen und ein dafür vorgesehenes Budget.

Die Einigung wurde von der Opposition naturgemäß bereits in weiten Teilen zerpflückt.
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Besonders umstritten ist die geplante verfassungskonforme "Sicherungshaft", also eine neue Form des Freiheitsentzugs ohne Verdacht oder Verurteilung. In der ORF-Sendung "Runder Tisch" wies der geschäftsführende SPÖ-Klubobmann, Jörg Leichtfried, am Donnerstagabend auf die Besonderheit der österreichischen Verfassung hin, die eine solche Haft eben nicht vorsehe. Deshalb sei das zusätzliche Argument seitens der türkis-grünen Verhandler, dass es eine solche Haft schon in mehreren anderen europäischen Ländern gebe, nicht zulässig, so Leichtfried. Für ihn handle es sich dabei um einen "Zombie von Kickl-Ideen".

Für Parteichefin Pamela Rendi-Wagner fehlt die soziale Handschrift. "Von Armut bedrohte Kinder haben kaum etwas von den türkis-grünen Plänen zum Familienbonus, während Besserverdiener profitieren", so Rendi-Wagner in einer Aussendung. Leichtfried sieht in der geplanten Senkung der Körperschaftssteuer ein Geschenk für die "Multis", also für große multinationale Konzerne.

Arbeitsgruppen und Task-Forces

Die Neos sehen in vielen Punkten den Kurs der letzten Regierung offensichtlich fortgeführt und sprechen von einem türkis-blauen Erbe. Neos-Chefin Beate Meinl-Reisinger verwies auf die Sicherungshaft und die Rückkehrzentren. Auch die Wiedereinführung der Generalsekretäre mache deutlich, dass wenig Einsicht für alte Fehler bestehe.

Was ist von dieser Bundesregierung zu erwarten? Darüber diskutierten am "Runden Tisch" August Wöginger (ÖVP), Johannes Rauch (Grüne), Jörg Leichtfried (SPÖ), Norbert Hofer (FPÖ) und Nikolaus Scherak (Neos).
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Beim "Runden Tisch" kritisierten beide Parteien eine fehlende konkrete Ausgestaltung wichtiger Themenbereiche, etwa Pflege, eine potenzielle Entlastung durch die Abschaffung der kalten Progression oder auch die vorgesehenen Maßnahmen gegen den Klimawandel. Vieles werde auf Arbeitsgruppen und Task-Forces abgeschoben, und in der Vergangenheit habe bei einer solchen Vorgehensweise nichts herausgeschaut, so der Tenor. ÖVP und Grüne widersprachen und verwiesen auf die künftige Steuerreform und anstehende Budgetverhandlungen.

FPÖ befürchtet "Linksruck"

FPÖ-Chef Norbert Hofer sieht in der neuen Regierung überhaupt einen "gesellschaftspolitischen Linksruck". Dieser sei darin zu erkennen, dass die – von Türkis-Blau beschlossene – Flüchtlingsberatung durch die Bundesbetreuungsagentur durch einen "Qualitätsbeirat" aufgeweicht werde. Für "noch bemerkenswerter" hält er es, dass im Fall einer neuerlichen Flüchtlingswelle der Asylbereich koalitionsfreier Raum wird. Besonders besorgniserregend sei für ihn der Umstand, dass alle Nachrichtendienste in ÖVP-Hand seien.

Volkshilfe enttäuscht

Ziemlich enttäuscht zeigte sich die Volkshilfe in einer ersten Aussendung. Direktor Erich Fenninger hält die Maßnahmen zur Bekämpfung der Kinderarmut für unzureichend – und ist "besonders schockiert", dass die menschenrechtswidrige "Sicherungshaft" eingeführt werden soll.

Von den geplanten Maßnahmen gegen die Kinderarmut würden vor allem Besserverdienende profitieren, bemängelte Fenninger: Von der Reduktion der Einkommenssteuer hätten viele armutsbetroffene Familien nichts – und die Erhöhung des Familienbonus komme in vollem Ausmaß auch nur Familien mit höheren Einkommen zugute.

Frauenring kritisiert fehlendes Frauenministerium

Der Österreichische Frauenring begrüßte zwar, dass mehr als die Hälfte der Regierungsmitglieder weiblich sein wird. Aber in einer Aussendung wurde kritisiert, dass es kein eigenständiges Frauenministerium gibt – die Frauenagenden werden von Integrationsministerin Susanne Raab (ÖVP) wahrgenommen. Klaudia Frieben hat aber immerhin Hoffnung, dass Türkis-Grün die Kürzung der Förderungen für Frauenorganisationen zurücknimmt.

ÖH kündigt "Gegenwind" an

Die Österreichische HochschülerInnenschaft (ÖH) fand nur ein Gutes – nämlich das österreichweite Öffi-Ticket. Aber die Studierendenvertreter kritisierten, dass die Studienbeiträge bleiben, die Zugangsbeschränkungen weiter ausgebaut und das Studienrecht verschärft werden soll. Wenn die Rechte Studierender beschnitten werden – etwa mit Streichung der freien Zeiteinteilung im Studium –, müsse die Regierung "mit massivem Gegenwind rechnen", hieß es in einer Aussendung.

Programm für Konsumentenschutz "ambitionslos"

Auch beim Thema Konsumentenschutz sei das Regierungsprogramm "ambitionslos", so das erste Resümee von Peter Kolba, Ex-Nationalratsabgeordneter und Obmann des Verbraucherschutzvereines (VSV). Dass man Richtlinien der EU ordentlich umsetzen will, wird betont. Aber eigene Ideen zu Themen des Verbraucherschutzes würden flach ausfallen, so Kolba. (red, APA, 3.1.2020)