Alle, die viel zu viel Geld haben, investieren in Betongold und treiben die Preise weiter in die Höhe. Wohnen in der Innenstadt ist für die Durchschnittsverdiener kaum leistbar.

Überall, wo eine U-Bahn hinführt, ist Stadt. Ist also eine Stadt ohne U-Bahn überhaupt eine Stadt? Fangen wir so an: Ich bin in Graz geboren. Im Glasscherbenviertel, also auf der linken Murseite (das war die Bahnhofsseite, Rotlichtseite, Drogenseite, nicht die Altstadtseite, Universitätsseite, Bürgerseite). Heute ist auch dieses Viertel gentrifiziert, um das neugebaute Kunsthaus drängen sich Bars und Cafés, in denen Menschen mit Hipsterbärten Latte trinken, wie in London, Barcelona oder Unterpremstätten – aber früher war das anders.

Das Terrassenhaus Buchengasse in Wien-Favoriten von Architekt Rüdiger Lainer.
Foto: Michael Hierner

Meine Eltern sahen es als gesellschaftlichen Aufstieg, in eine schicke, neugebaute Genossenschaftswohnung mit Lift an den Stadtrand zu ziehen. Stadtrand meint hier: nach der Straßenbahnendhaltestelle noch 20 Minuten zu Fuß durch die Äcker oder in einen Bus umsteigen, der unweit der Siedlung hielt. Natürlich nicht zu teenagergerechten Zeiten. Die Hochhäuser in pflegeleichten Farben, Fenchelgrün zum Beispiel, waren uniform und unauffällig, nicht strahlend weiß, das schmutzt zu sehr und will zu weit hinaus. Hier standen Hochhäuser, die sich ducken.

Hochhäuser, die sich ducken

Wo fängt der Stadtrand an? Gehe ich vom Reumannplatz (urban, da U-Bahn-Anbindung) aus in Richtung Süden, erkenne ich ihn wieder. Die pompöse, überdimensionierte Antonskirche kann mich nicht darüber hinwegtäuschen, hier fängt er an, der Stadtrand. Kurz lasse ich mich aufhalten, durchschreite das Portal: "Messe in der Werktagskapelle", das Rosenkranzbeten ein Brummen wie von Winterbienen, die den Schwarm warmhalten. Es sagt mir nichts. Ich fröstle. Will auch nicht am Rippchen des Heiligen knabbern.

Draußen ist mein Revier: Keine großspurigen Pflanzen werden hier gepflanzt, keine Magnolien, kein ewig glänzender Winterlorbeer, nein, etwas Kleinblättriges, Ordentliches. Hüfthohe Hecken sagen: Wir haben nichts zu verbergen, hier herrscht Transparenz, nicht die Noblesse der Privatheit hinter hohen Mauern, die sich vor neugierigen Blicken zu schützen weiß. Hier ist aber auch keine Gstätten, hier liegt kein Müll herum, das Gras ist gemäht. Ein Zwischenreich, in dem sogar noch Feldhamster wohnen, "Hunde fernhalten!"

Außerhalb der Linie

Es geht leicht bergan. Es ist zu spüren: Hier ist man außerhalb "der Linie", des alten Linienwalls, nur noch vereinzelt Altbauten, Zinshäuser aus der Jahrhundertwende. Hier war unbebautes Feld bis zum "Alten Landgut", einem im Biedermeier höchst beliebten Landgasthaus in einer ehemaligen Ziegelei. Die Aussicht auf die Stadt, sie war famos, schöner als ihre Realität. Nur wenig früher waren hier nur Brache und Ziegelproduktion, Hütten und Brennöfen, Elend.

Ich kenne sie, diese 60er-Jahre-Wohnbauten, die heute hier stehen mit ihren gut frisierten Hecken und den vielen Parkplätzen dazwischen. Die Parkplätze sind überhaupt das Wichtigste. In den Höfen zwischen den Wohnbauten waren die Autos und asphaltierte Wege zu den Mülltonnen, keine uneinsehbaren Ecken, die Jugendgangs verzogen sich an stillere Plätze. Beim vordersten der Höfe gab es einen Greißler und folglich Brausepulver und Wurstsemmeln und Tschick.

Später, als der Greißler zugesperrt hatte, waren es zwei Kilometer bis zur Tankstelle an der nächsten großen Kreuzung, mit dem Auto oder dem Moped. Zu Fuß wäre natürlich auch gegangen, aber warum? Die öde, endlos lange Mauer an der Kaserne entlang, die nur einmal im Jahr die Pforten weit aufriss wie ein freches Maul, das man sonst gefälligst zu halten hatte: für den Offiziersball. Dazu passend: die Föhnfrisur der Mutter einmal im Jahr.

Regenwürmer ertränken

Dafür gegenüber der Wald. Nicht einzelne Bäume oder Park, richtiger Wald. Hohlwege voller Buchenblätter und metertiefe Bombentrichter, in denen sich Schlachten imaginieren ließen und nachstellen. Schlitterfahrten in eisiger, blinder Fahrt, die Augen zusammengepresst vor lauter Angst auf ungeschotterten Wegen. Wo gibt es denn heute noch ungeschotterte Wege? Nicht einmal in der Vorstadt. Und im Sommer, wenn die Teerfugen schwimmen vor lauter Hitze nach einem Gewitter die Regenwürmer ertränken vor lauter Langeweile.

Der gesellschaftliche Aufstieg, das war mir damals schon klar, wohnt im Stadtzentrum. Da wollte ich hin. Gewiss, bis zu dem Glasscherbengymnasium ging auch ein Bus, aber bis ins Akademische Gymnasium war es zu weit. Warum auch den weiteren Weg auf sich nehmen? Ins Akademische Gymnasium gingen nur die Akademiker, also die, die es immer schon gewesen waren. Der gesellschaftliche Unterschied wurde gepflegt, man sah herab auf die Bürgerlichen mit ihren genagelten Schuhen, ihren gewachsten Jacken, ihren sauberen Fingernägeln. Gern hätte man sich geprügelt, wenn sie darauf eingestiegen wären.

Bildungsversprechen gehalten

Diese feinen, aber mit dem geübten Auge leicht erkennbaren Unterschiede applanierten sich durch den freien Universitätszugang. Gewiss, eine Praxis, Kanzlei, ja selbst ein Praktikumsplatz finden sich leichter, wenn schon der Herr Papa ... aber zumindest: Es war nicht unmöglich. Das Versprechen der Kreisky-Ära, dass Bildung sozialen Aufstieg ermöglichen werde, war noch einhaltbar. Auch Wohlstand konnte angespart werden.

Zwei Generationen eisernen Sparens, an ein Essen im Restaurant war nicht zu denken, nur manchmal sonntags an hohen Feiertagen. Nie hätte ich mir als Kind irgendetwas auf einer Speisekarte aussuchen dürfen, gelesen wurde sie von rechts nach links. Ein zweites Getränk gab es nur für die Erwachsenen. Eingekauft wurde, was gerade im Angebot war. Preisvergleiche fanden nicht im Netz, sondern per pedes statt, so weit reichte das Latein gerade noch. Trotzdem fühlte es sich nie an wie Verzicht, sondern wie der Teil eines wohlformulierten Planes. Des Planes für ein besseres Leben. Und der ging auf.

Generation der Erben

Eine Eigentumswohnung konnte erworben werden, mit dem, was Zinsen auf das Ersparte in vielen Jahrzehnten eingebracht hatten. Als Erste in meiner Familie reihte ich mich ein in die Generation der Erben. Antizipierte, was dereinst ein Altkanzler den Jungen raten würde: Kauft euch doch einfach eine Immobilie, dann müsst ihr im Alter nicht darben. Gesagt, getan!

Niemals hätte ich das in einem Erwerbsleben erwirtschaften können. Und mit der Nullzinspolitik ist das heute auch nicht mehr möglich. Im Gegenteil: Alle, die viel zu viel Geld haben, investieren in Betongold und treiben die Preise weiter in unerschwingliche Höhen. Sparen wird nicht belohnt, sondern bestraft. Wohnen in der Innenstadt ist für die Durchschnittsverdiener kaum leistbar. Bildung ist kein Garant mehr für einen guten Job. Die Globalisierung, Digitalisierung und die Klimakrise haben uns einen Strich durch die Rechnung gemacht.

An den Rändern wird wieder gebaut. Hier zum Beispiel, wo die zu Fuß begehbare Stadt endgültig zu Ende ist. Weldengasse heißt sie, ausgerechnet! Nach Franz Ludwig Welden, dem Gouverneur von Wien nach 1848, der mit eiserner Hand die Repressionen gegen Aufständische durchführen ließ. Und das mitten im sogenannten Arbeiterbezirk. Der Gehsteig bricht ab in eine Fahrbahn, die in den Verteilerkreis Favoriten mündet, der exakt und mit dreispuriger Gnadenlosigkeit die gewachsene Stadt von Möbelhäusern und Einkaufszentren trennt.

Ich kenne sie, diese Nichtorte, die darauf folgen, umflockt von Einfamilienhäusern, die daliegen wie ausgespien. Aber gebt nicht auf! Dort, wo eine U-Bahn hinführt, ist Stadt. Führt irgendein Gleis weg, wo du wohnst, bist du nicht verloren. Denn jeder Bahnhof sagt: Steig ein! Ab hier beginnt die Verbindung mit jedem Punkt der Welt, von dem du träumst. (Tanja Paar, ALBUM, 7.1.2020)