Und dann gab es noch andere Momente, die nicht mehr Träume waren, sondern eine Mischung von Wachen und Träumen, genau das, was man Halluzination nennt." In Ludwig Hohls 1928 begonnener und erst 1975 gedruckter Novelle Bergfahrt lautet die gleich darauffolgende Frage: Warum steigt ihr auf Berge?

Jakob Walter, Lorenz Langeneggers Protagonist in bisher drei Romanen, ist nicht reisemüde, er ist reisetaub.
Foto: Ruth Erdt

In Lorenz Langeneggers Jahr ohne Winter findet sich ein variiertes Echo auf Momente, die nicht mehr Träume waren, auf ein Leben im Stadium der Halluzination. Hier lautet die Frage: Warum eigentlich reisen? Ja, warum?

Jakob Walter, Langeneggers Protagonist in bisher drei Romanen, ist nicht reisemüde, er ist reisetaub. War er 2014 im Roman Bei 30 Grad im Schatten ein aus dem Lebenstrott Ausbrechender und unterwegs nach Griechenland, so ist er nun wieder zurück in Bern.

Irgendwo im Outback

Doch die Beamtenanstellung in der Steuerverwaltung ist ihm aufgekündigt worden, auch die Ehe mit Edith ist seit fünf Jahren vorbei. Und dann erreicht unseren stark reduziert lebenden unheldischen Helden – er ist nach einigen Monaten der Arbeitslosigkeit erst Radfahrparkplatzaufseher geworden, dann spätnächtlicher bis frühmorgendlicher Zeitungsausfahrer – eine Nachricht seiner Ex-Schwiegermutter.

Er soll für sie, Ursula, ihre Tochter, seine geschiedene Frau, ausfindig machen. Ausgerechnet in Australien, dem für Walter entferntesten Ziel. Sie habe Krebs, brauche eine Stammzellentherapie, Edith sei die Einzige, die ihr die überlebensnotwendige Spende geben könne. Doch seit längerem sei diese abgetaucht in einer Meditations- und Schweigekur an unbekanntem Ort irgendwo im Outback.

Lorenz Langenegger, "Jahr ohne Winter". Roman, € 20,00 / 160 Seiten. Jung-und-Jung-Verlag, Salzburg 2019
Foto: Jung-Und-Jung-Verlag

Verdattert bis semipassiv lässt sich Walter zur von Ursula finanzierten Fernreise auf den Reiseweg treiben. In Australien widerfahren ihm tragico-melancholische Fährnisse, Begegnungen und Episoden. Schließlich findet der traurige, sympathisch ambitionsbefreite Antiheros trotz defizitärer Orientierung und mangelnder Planung den Ort. Ein Aborigine führt ihn dorthin. Edith bricht nach wortlosem Konflikt das Selbstfindungsseminar ab. Sie fliegen gemeinsam, aber stumm zurück. Am Ende ist Jakob Walter wieder da – so der allerletzte Satz – und doch nicht da. Denn ankommen, die Inbesitznahme eines Stückchens Welt, das ist ihm, weil schon zu viel, schlechterdings nicht möglich.

Jakob Walter ist ein literarischer Prototyp des Schweizer Erzählens. Man kennt sie, all die à la Melvilles Bartleby ("Ich würde lieber nicht") ins Phlegma Fliehenden, die zögernd bis sacht widerständig Aufbrechenden, die durchs Leben stolpernden Männer, die die Balance des Unglücks aus nur einem Grunde auszuhalten imstande sind: Tragik ist niemals dermaßen titanisch, dass man kollabiert. Der Winterthurer Peter Stamm hat daraus, flacher als der 1980 geborene Langenegger etwa in Weit übers Land seelenlos mechanistisch, ein Buch nach dem anderen gesponnen. Doch bei Langenegger, in Bern und Wien lebend, ist das Leid stiller, unaufgeregter, wenn auch nicht aufgeräumter. (Alexander Kluy, ALBUM, 7.1.2020)