Fast dreißig Jahre hat es gebraucht, bis der Debütroman von Juri Andruchowytsch in deutscher Übersetzung erschienen ist – im September und Oktober 1990 hat der heute international bekannteste ukrainische Autor seinen Karpatenkarneval geschrieben, 1992 ist er im Original erschienen, allerdings unter dem Titel Rekreacii, was "Wiederherstellung" oder "Erholung", auch "Urlaub" bedeutet; von der lateinischen Wortwurzel her könnte man den Titel auch als "Wiedererschaffung" interpretieren.

Juri Andruchowytschs "Karpatenkaneval" hebt die Traumata der Ukraine auf die Bühne.
Foto: APA/Georg Hochmuth

Die Wiederherstellung literarischer und folkloristischer Traditionen und die Wiederherstellung der Ukraine als Staat, die Erholung von der bedrückenden Zensur und den Lebensrealitäten der Sowjetunion sowie die Wiedererschaffung geistiger Traditionen – all das ist diesem Roman eingeschrieben, der verfasst wurde, als die Sowjetunion formal noch bestanden hat, und erscheinen konnte, als sie gerade aufgelöst war.

Ein "Fest des auferstehenden Geistes" steht im Mittelpunkt des Buches, und zu dieser Mixtur aus Wallfahrt und Woodstock ist eine sehr bunte Gesellschaft unterwegs. Stattfinden soll das Spektakel in Tschortopil – der Name des fingierten Städtchens bedeutet "Teufelsburg", und das bringt nicht nur zum Ausdruck, dass auch ein bisschen Satanismus Platz hat in diesem chaotisch-kreativen Gemisch aus Mystizismus, Folklore und Kunst, sondern setzt auch ein deutliches Ironie-Signal.

Und so ist gerade aus heutiger Sicht der geniale deutsche Titel Karpatenkarneval zutreffend, denn an greller Komik und bunten Masken mangelt es diesem Roman nicht. Allerdings läuft hier kein harmloser Fasching ab, sondern kommt eher jene widerständige karnevalistische Lachkultur zum Ausdruck, die der russische Literaturtheoretiker Michail Bachtin – selbst von Stalin verbannt und gepeinigt – analysiert hat.

Zündfunke für diesen Aufbruch

Vier ukrainische Lyriker stehen im Mittelpunkt des Festes, und als selbstreferenzieller Scherz wird angemerkt, dass Andruchowytsch fehle, weil er jetzt angeblich Prosa schreibe. Der bunte Reigen der Einzelszenen, der aus immer wieder wechselnder Erzählperspektive erzählt wird (das ist keinesfalls ermüdend, sondern sehr spannend!), lässt sich nicht nacherzählen.

Zwischen nationalen Eruptionen, die der Roman gleichzeitig ernst nimmt und ironisiert, opulenten Saufgelagen und (post)sowjetischem Verzweiflungssex treten die Dichter als Propheten auf. Einem von ihnen reibt der Roman das so unter die Nase: "Du berauschst dich an deinen eigenen Worten wie auch an diesem höllischen Selbstgebrannten, Martofljak. Schon sind sie bereit, dir zu folgen. Ehrfürchtig versuchen sie, sich etwas in ihre aufgewühlten Hirne einzuprägen, und geben vor zu kapieren, was du zusammenphantasierst, obwohl du selbst nichts kapierst, aber du spürst einfach, sie brauchen das jetzt."

Juri Andruchowytsch, "Karpatenkarneval". Roman. Aus dem Ukrainischen von Sabine Stöhr. € 10,30 / 172 Seiten. Suhrkamp-Verlag, Berlin 2019
Foto: Suhrkamp-Verlag

Literatur war in Sowjetzeiten nicht nur Literatur, ihre Metaphern, ihre "äsopische Sprache" war immer auch der Ersatz für die nicht funktionierende Öffentlichkeit und die gleichgeschalteten Medien. Darum sind im Zerfallsprozess der Sowjetunion auch die Erwartungen an Literatur und Kunst so überfrachtet. Aber die Literatur ist eben auch der Zündfunke für diesen Aufbruch, der zwischen Delirium und Klarsicht schwankt. Andruchowytschs Karpatenkarneval ist auch eine Zeit- und Mentalitätsdiagnose der frühen 1990er-Jahre, die weit über die Ukraine hinaus auch andere ehemalige Republiken der Sowjetunion treffsicher im Visier hat (die baltischen Staaten ganz bestimmt). So hat uns dieser Roman vielleicht doch nicht zu spät erreicht, sondern gerade rechtzeitig, wenn wir uns jetzt nach 30 Jahren mit dem Fall des Eisernen Vorhangs und in der Folge auch mit der Auflösung der Sowjetunion beschäftigen.

Vor allem aber ist dieser Roman ein fulminantes Kunstwerk, das kein Ablaufdatum hat. Er ist eine sprachschöpferische Eruption – die Übersetzung von Sabine Stöhr erfindet das wunderbar nach –, die selbst religiöse Textgattungen wie Litanei und Gebet kreativ verwendet und mit vielen Anspielungen, intertextuellen Bezügen und geliehenen Motiven gespickt ist. Und das alles wird nie mühsam und wirkt nie konstruiert, postmodernes Erzählen ist hier nicht zu einer Fingerübung verkommen, das brillante Feuerwerk entfaltet einen Sog, der auch dann nicht nachlässt, wenn man einmal nicht alles durchblickt.

Karpatenkarneval hebt auch die Traumata der Ukraine auf die Bühne. Die Vorgänge auf dem Maidan 2013, wo Juri Andruchowytsch maßgeblich an den Protesten beteiligt war, die Annexion der Krim durch Russland und die Gewalt in der Ostukraine – das alles liegt im Roman noch in ziemlich weiter Ferne, aber manche Stellen lesen sich wie eine Vorahnung vom bösen Erwachen. Aber dass die Ukraine wieder ein eigener Staat ist, dass ihre Sprache und ihre Literatur eine Rolle spielen im europäischen Konzert, auch das wurzelt in den Träumen, die Andruchowytschs Karpatenkarneval so fulminant orchestriert. (Cornelius Hell, ALBUM, 7.1.2020)