Im Gastkommentar sieht der Rechtsanwalt und ehemalige Jetzt-Abgeordnete Alfred J. Noll in der türkis-grünen Koalition eine ÖVP-Alleinregierung mit grünem Feigenblatt. Deren Regierungsprogramm widmet sich Barbara Blaha vom Momentum-Institut in einem Gastkommentar. Und Europarechtsexperte Stefan Brocza macht eine "Verzwergung des Vizekanzlers" aus.

Illustration: Felix Grütsch

Vorsichtshalber wird man der Bewertung der jetzt wohl zu einem – wie man sagt – "glücklichen Ausgang" gefunden habenden Aufführung ein paar Worte vorausschicken müssen, um die sonst auseinanderstiebenden Assoziationen ins richtige Fahrwasser zu bringen: Was die Republik hier an Verabschiedung von der FPÖ leistet, ist begrüßenswert. Dieser Truppe ein weiteres Verbleiben "im Amt" zu verunmöglichen ist eine zivilisatorische Notwendigkeit, der durch die nunmehr realisierte Koalition entsprochen wird. Alles Weitere steht unter dem Baldachin dieser gewiss etwas groben, aber von jeder politischen Distinktionsschwäche befreiten Einschätzung.

Hat man sich auf den Weg gemacht, wird man sich weder von notwendigen Umwegen am Voranschreiten ab- noch durch Stock und Stein aufhalten lassen. Der ÖVP wird man das nicht erklären müssen. Insofern sind aber auch besserwisserische Verbaltachteln an die Grünen, sie hätten nicht gut genug verhandelt, es wäre "mehr drin" gewesen et cetera, nicht nur entbehrlich, sondern liegen neben der Sache: Wer regieren will, sei’s auch nur ein Mit-Regieren, der muss Kompromisse schließen – also absehbar das eigene Wohl und das von vertretungsbedürftigen Dritten beschädigen.

Kein Wagnis

Es ist mitnichten ein "Wagnis" oder ein "Abenteuer", wenn Grüne und ÖVP jetzt zusammenfinden. Die Mehrzahl der Grünen – so meine gewiss perspektivische Beobachtung – fühlt sich ganz wohl in der Gesellschaft, so wie sie ist: Na ja, sie wollen sie ein klein wenig liberaler, halt ein bisserl netter, grausen sich vor xenophoben Grauslichkeiten, wissen, dass wir am Umgang mit unserer Umwelt etwas ändern müssen, haben eine gewisse Scheu vor offenkundig autoritären Problemlösungsmustern und sind des Öfteren so weit mit offiziellen Bildungszertifikaten ausgestattet, dass sie absehbar nicht zu den Modernisierungsverlierern gehören werden – insgesamt nachgerade das ideale politische Nahrungsmittelergänzungsprodukt für die ÖVP.

Worin soll – vor allem, wenn man die westlichen Bundesländer betrachtet – hier ein "Wagnis" bestehen? Ganz im Gegenteil: Es ist dies weltanschaulich die verlässlichste Verbindung, die sich in unserer zunehmend disparater werdenden Gesellschaft knüpfen lässt. Rechte Politik – diesmal mit planetenschonendem Gewissen. Hier wächst zusammen, was zusammengehört.

Ein Ja mit "gutem Gewissen"

Wie man die Sache letztlich einschätzt, hängt ab davon, was man von den beiden zukünftigen Regierungsprotagonisten hält. In Hinsicht auf die ÖVP wird dabei wenig Zögerlichkeit aufkommen: Sie ist stimmenstärkste Partei, und daraus quillt ihr Anspruch gegenüber sich und anderen, Inhalte und Positionen zu bestimmen. Das ist ihr weitgehend gelungen – und noch mehr: Sie kann ihre politische Reputierlichkeit, die sie durch die Verehelichung mit der FPÖ versenkt hat, wieder auf ein international herzeigbares Niveau heben und dennoch ihre "Wirtschaftsfreudigkeit" ausleben. Anders gesagt: Die ÖVP kann, was ihr traditionell so wichtig ist, mit "gutem Gewissen" Ja sagen zu dieser Koalition. Den medienaffinen Üblichkeiten entsprechend müsste man als politischer Mitbewerber sagen: "Es ist Ihnen zu gratulieren!"

Bei den Grünen sieht dies wohl etwas anders aus: Was sie in und mit den gewonnenen Ämtern gut oder schlecht machen werden, das wird man einzig daran ablesen können, was sie in Zukunft tatsächlich tun beziehungsweise unterlassen. Und darüber lässt sich derzeit wenig sagen. Werden sie als selbsternannte Menschenrechtspartei koalitionstreu einer präventiven Schutzhaft zustimmen? Werden sie als Friedenspartei neue Abfangjäger kaufen? Werden sie als Umweltpartei eine sofortige Novellierung des von FPÖVP geänderten UVP-Gesetzes initiieren? Werden sie die neue Europaministerin öffentlich kritisieren, weil sie deren absehbaren Kampf gegen mehr soziale Gerechtigkeit und gegen mehr ökologische Verträglichkeit des gemeinsamen Marktes nicht unterstützen können?

Grüner Zerfall

Vermutlich hängt es weniger vom jetzt in ein Regierungsprogramm gepressten Kompromiss ab, wie die Grünen in Zukunft beurteilt werden, sondern von der sogenannten Performance ihrer Spitzendarstellerinnen. Wenn man dem Publikum die Zuversicht vermitteln kann, dass all die Steine, die hier auf dem Weg liegen, die Grünen nicht davon abhalten werden, ihre "eigentlichen" Ziele zu verfolgen, dann könnten sie in einigen Jahren besser (also: stimmenstärker) dastehen als heute; wenn sie die dabei zu beschreitenden Umwege als "notwendig" verkaufen können, dann muss dies nicht zu Einbußen in der Wähler- und Wählerinnengunst führen.

Würden freilich in den eigenen Reihen Zweifel darüber aufkommen, dass der Weg einer Verehelichung mit der ÖVP in die falsche Richtung führt, dann wäre auch die jetzt unter Beweis gestellte Bereitschaft, zu Kompromissen fähig zu sein und den eigenen Schatten zu überspringen, keine Garantie für zukünftige Erfolge. Statt einer "Homogenisierung" der Grünen käme es dann zu einem "Zerfall".

Alles beim Alten

Der damit skizzierte Versuch, die Grünen aus den Augen der Grünen zu sehen, unterscheidet sich aber vielleicht deutlich von einer nüchternen Außensicht: Denn in der Sache selbst haben wir zukünftig eine ÖVP-Alleinregierung (Finanz, Wirtschaft, Arbeit, Inneres und Außenpolitik) mit grünen Feigenblättern (Soziales, Umwelt); nach politischer Gewichtung betrachtet steht Sebastian Kurz durch die Grünen nun besser da denn je – und er wird weniger "schlucken" müssen.

Die Grünen werden der ÖVP helfen, an unserer Welt das zu ändern, was notwendig ist, damit alles beim Alten bleibt. Was Besseres ist (noch) nicht in Sichtweite. (Alfred J. Noll, 5.1.2020)