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Wen – wie mich – Michael Marraks jüngster Roman "Der Garten des Uroboros" nicht wirklich überzeugt hat, der wird hier auf seine Kosten kommen. Denn von Marrak gibt's noch mehr, viel mehr – und viel Besseres. Golkonda veröffentlicht eine zweiteilige Edition von Kurzgeschichten und Novellen, die er in den vergangenen 30 Jahren veröffentlicht hat – dieser erste Band enthält neun Stück, die aus den Jahren 1996 bis 2017 stammen. Für die Neuausgabe wurden sie aber großteils überarbeitet, im Anhang schildert Marrak ihre jeweilige Entstehungsgeschichte. Es sind neun Tickets in seltsame Welten, mal humorvoll, mal von existenziellem Grauen erfüllt – aber immer fantastisch, nicht zuletzt sprachlich.

Wenn einem der Boden unter den Füßen weggezogen wird

Nehmen wir etwa die Titelgeschichte "Quo vadis, Armageddon?". Ihr Ich-Erzähler erinnert sich an eine Apokalypse von erhabener Schönheit, die ihn allein auf einer verwüsteten Welt zurückgelassen hat. Wie untot zieht er nun ohne Sinn und Ziel durch eine vollkommen gleichförmige Wüstenei, und nichts, was er tut, wird daran jemals etwas ändern. Mit der Ewigkeit konfrontiert zu werden, ist der vielleicht größte Schrecken überhaupt, und hier wird die Ewigkeit tatsächlich spürbar. Das ist beeindruckend, sollte aber mit einem Warnhinweis versehen werden: Es ist wohl eine der trostlosesten Geschichten, die jemals erzählt wurden.

Mit dem Deutschen Science Fiction Preis wurde seinerzeit die Erzählung "Die Stille nach dem Ton" ausgezeichnet, deren Protagonist Radiant ebenfalls seine Welt verliert. Was immer er auf dem mysteriösen Kanal 6 seines Fernsehers sieht, ist am nächsten Tag aus der Welt verschwunden – erst Glocken, dann Hunde und immer so weiter. Und niemand außer ihm kann sich daran erinnern, dass diese Dinge jemals existiert haben: Es scheint, als würde die Realität redigiert. Das ist der Stoff für eine surreale Mystery – doch welcher Plan steckt wirklich hinter der Defragmentierung der Welt?

Gestatten, Richard Madenbach

Nach einem derartigen Doppelschlag in die Magengrube empfiehlt sich ein Abstecher ins Humorvolle wie die Geschichte "Dominion" mit ihrem spektakulären Eröffnungssatz: Richard Madenbach war ein ausgewachsener, wenn auch für sein Alter recht unscheinbarer Säbelzahntiger des späten Pliozäns ... Und ja: Das ist nicht etwa bildhaft gemeint, es geht wirklich um einen Säbelzahntiger, der mit bürgerlichem Namen Richard Madenbach heißt und inmitten eines wilden paläontologischen Mixes, den ein paar Karikaturen von Aliens angerührt haben, auf eine sarkastisch veranlagte Artgenossin treffen wird. Ein Vergnügen!

Lachen definiert sich gemeinhin ja als Reaktion auf einen humoristischen Reiz – was irgendwie auf einen Zirkelschluss hinausläuft, weil als Humor wiederum das gilt, was einen Lacher auslöst. Man kann aber – und tut es hier immer wieder – auch aus schierer Verblüffung auflachen. Und Marrak versteht es, mit Formulierungen zu verblüffen, die wie aus dem Nichts kommen. Das ist ebenso ein Zeichen für einen gewieften Erzähler wie Einstiegssätze, die zum Weiterlesen geradezu zwingen, oder lustvolles stilistisches Experimentieren.

Die Lust am Fabulieren

In "Das Concaliom" beispielsweise versetzt sich Marrak so sehr in die blumig-akademische Denk- und Sprechweise seines Erzählers, dass die Geschichte wie einer 100 Jahre alten Zeitkapsel entnommen wirkt. Sein Sprachrohr ist in diesem Fall ein Arzt in einer Nervenklinik, der sich hilfesuchend an einen Kollegen wendet, weil er befürchtet, dass drei seiner Patienten Engel der Apokalypse sein könnten. Im sprachlich sogar noch stärker verdichteten "Schattenmärchen" wiederum versammelt ein Erzähler seine Zuhörer am Lagerfeuer und warnt sie vor den für uns Leser vollkommen rätselhaft bleibenden Gefahren einer postapokalyptischen Welt.

Im Vergleich dazu kommt "Die Ausgesetzten" – eine Geschichte über eine makabre neue Form von Weltraumtourismus – stilistisch auffällig straight daher ... wäre da nicht das Intro, das mit der Rasanz einer Billy-Wilder-Komödie eine tragikomische Todesfahrt schildert und einmal mehr zeigt, dass die Lust am Erzählen für Marrak ein Grundbedürfnis ist.

Bizarre Welten

Fans des Autors dürften sich speziell über "Wiedergänger" freuen, gewissermaßen die Urzelle des fiktiven Universums, das Marrak im Roman "Lord Gamma" weiter ausgebaut hat. Die Geschichte dreht sich um einen Erkunder im BRAS-Raum, einem metaphysischen Sammelbecken großer Seelen – und de facto eine virtuelle Alles-ist-möglich-Welt, die den Besucher nur akzeptiert, wenn er für sie reif genug ist. In diesem Zusammenhang fällt auch der schöne Satz: "In deinem Universum drehen sich Dinge um Dinge, dazwischen existiert nur Leere, die es zu füllen gilt. Ob mit Worten, Schritten oder Projektilen, der Zweck heiligt die Mittel."

"Epitaph" führt uns erneut in eine psychiatrische Anstalt, diesmal ist jedoch ein Insasse der Erzähler. Den plagen nicht nur Albträume über ein mörderisches, ihm gegenüber aber unangenehm zärtliches Spinnenmonster (siehe Titelbild). Er ist auch das Versuchsobjekt eines Wissenschafters, der das Tor zu einer anderen Daseinsebene aufstoßen will. In dieser metaphysischen Dimension ragen Türme aus Knochen in den Himmel und tragen Uhren, auf denen Menschen als Zeiger kreisen – ein bizarres Bild aus dem in dieser Hinsicht unerschöpflich scheinenden Vorrat von Marraks Fantasie.

Allerdings kann er sich auch mal zurücknehmen, wenn es ihm geboten scheint. Die den Band abschließende Novelle "Der Steinhafen", angesiedelt irgendwo im süddeutschen Raum des frühen 20. Jahrhunderts, liest sich erstaunlich realitätsnah. Sie lässt lange die Frage offen, ob die merkwürdigen Begebenheiten darin tatsächlich übernatürlich sind oder ob sie nur dem naiv-magischen Weltbild des zwölfjährigen Protagonisten entspringen. Wenn wir den titelgebenden Steinhafen dann endlich vor uns sehen, werden wir allerdings feststellen, dass dieses Weltbild erheblich komplexer konstruiert ist, als wir anfangs dachten: eigentlich ein schönes Sinnbild für Marraks eigene Weltentwürfe, hinter denen letztlich immer mehr steckt, als es zunächst den Anschein hat.