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Als dieses Buch früh im Jahr herauskam, war es sofort einer der Kandidaten für mein persönliches Lieblingsbuch 2019 – und daran hat sich in der Endabrechnung nichts geändert. Seth Frieds "The Municipalists" gelang dies auf eine ziemlich ähnliche Weise wie seinerzeit Elan Mastais "Die beste meiner Welten" ("All Our Wrong Todays"), insofern keine Überraschung. Überrumpelt hat mich nur, wie schnell die deutschsprachige Übersetzung herauskam – die folgende Rezension orientiert sich daher noch an der Originalversion.

Eine andere und vielleicht bessere Welt

Sein Romandebüt siedelt der US-amerikanische Journalist in einer Welt an, die nicht ganz die unsere ist, ihr aber stark ähnelt. Dass man sie als Parallelwelt einstufen muss, merkt man an einigen kunst- und wissenschaftshistorischen Details ... und natürlich am dicken fetten Faktum, dass hier anstelle von New York eine Stadt mit dem Namen Metropolis existiert und satte 35 Millionen Einwohner hat.

Schon dieser Name trägt zum nostalgischen Feeling bei, das der Roman von der ersten Seite an verbreitet – wie auch der Umstand, dass Beamte stets Anzug und Filzhut tragen wie in den 1940ern oder dass Esperanto gesprochen wird (wenn auch nur von den Schurken). Der technologische Stand hingegen ist ganz anders als in Elan Mastais retrofuturistischer Wunderwelt: Ganz wie bei uns gibt es das Internet, Smartphones, Drohnen und Social Media. Stellt sich die Frage, warum "The Municipalists" dennoch ein ähnliches Retro-Flair erzeugt wie "Die beste meiner Welten".

Im Geist des Optimismus

Es liegt an der gesellschaftlichen Ordnung. Mit dem United States Municipal Survey (USMS) existiert in Frieds USA eine einflussreiche Behörde, die nimmermüde damit beschäftigt ist, das Leben in den stetig wachsenden Metropolen zu verbessern. Und Stadtplanung bedeutet für sie nicht nur Steigerung der Verkehrseffizienz, es geht auch um das Anlegen von Parks, Gemeindezentren und Büchereien – alles, was das Leben der Menschen besser macht.

Während die meisten SF-Romane unserer Zeit aus gutem Grund die Weltherrschaft der Konzerne an die Wand malen, gewinnen wir hier den Eindruck eines starken Staats, der sich um seine Bürger kümmert, und einer Gesellschaft, die ihre Mitte noch nicht verloren hat. The atmosphere of collective optimism never failed to produce a pleasant sense of belonging, schreibt Fried und bringt damit den ungebrochenen Fortschrittsglauben auf den Punkt, wie er für das Golden Age of Science Fiction typisch war und heute längst verschwunden ist. Umso schlimmer, dass die Behörde, die einen wesentlichen Teil dazu beiträgt, nun unter Beschuss gerät.

Einsatz für das Odd Couple

Nachdem auf das USMS ein Anschlag verübt wurde, schickt die Behörde ein klassisches Beispiel des "Odd Couple"-Motivs ins Feld. Eine Hälfte des ungleichen Duos, der 32-jährige Beamte Henry Thompson, fungiert zugleich als Ich-Erzähler des Romans. Henry hat den Ruf, somewhat joyless zu sein: eine Beamtenseele mit hoher Kompetenz, nur nicht in sozialer Hinsicht. Er ist kauzig wie Sheldon Cooper und genauso von Zügen fasziniert wie der "Big Bang Theory"-Star – was in dem Fall allerdings leicht morbide wirkt, immerhin sind Henrys Eltern bei einem Zugunglück ums Leben gekommen, als er noch ein Kind war. Der Roman beginnt übrigens damit, wie Henry dieses Unglück in denkwürdig merkwürdiger Art beschreibt. Oder genauer gesagt in einen eisenbahnhistorischen Kontext einordnet.

Die andere Hälfte des Duos heißt OWEN und ist die Künstliche Intelligenz des USMS-Hauptquartiers, die als Hologramm quasi-körperlich in Erscheinung treten kann. Wie es sich für ein richtiges Odd Couple gehört, muss einer regelkonform und der andere unkonventionell sein – hier sind die Rollen paradox verteilt: Während sich der Mensch tendenziell robotisch verhält, "verkörpert" OWEN die Lust am Regelbruch und ist ein Ausbund an egozentrischem Verhalten (wer das bei einer KI unplausibel findet: es wird eine Erklärung dafür geben). OWEN liebt Gangsterfilme und Alkohol, er hat sich sogar extra Algorithmen geschrieben, durch die ihm der holographische Alkohol einen Rausch verpasst. Zu den vielen Stellen, an denen man sich eine Comic-Adaption von "The Municipalists" wünschen würde, gehört auch, wenn OWEN in hohem Schwall grünen Code in eine Mülltonne kotzt.

Gags, aber nicht nur

Es folgt jede Menge Situationskomik, die sich sowohl aus dem Gegensatz der beiden Hauptfiguren als auch aus OWENs Fähigkeit speist, nicht nur seine äußere Erscheinung nach Belieben zu verändern, sondern auch seine Umgebung mit 3D-Projektionen kreativ umzugestalten – Henry inklusive. Da posieren die beiden etwa bei der Fahndung nach Terroristen in einem Museum als Riesenstinktier-Exponate oder lassen ein holographisches Clownmonster von der Leine – OWENs Einfallsreichtum ist unbegrenzt. Nur körperliche Interaktionen bleiben ihm verwehrt: Wenn Henry stürzt, kann OWEN ihm nur "helfen", indem er ihm "Hoppauf! Hoppauf!" ins Gesicht brüllt, sehr zur Verwunderung der Umstehenden. Und Blut sehen kann OWEN leider auch nicht: Before he could finish his sentence, he turned into a French bulldog and fainted. He lay there motionless in his dog's body with his tongue hanging out. Above him in bold white text was a slowly rotating error message.

Und dann tut Fried das, was schon Elan Mastai getan hat und was beider Romane länger nachwirken lässt, als es bloßen Gag-Paraden vergönnt wäre. Der Unterhaltungsfaktor ist etabliert und wird auch aufrecht erhalten, doch langsam schwenkt der Ton ins Nachdenkliche. In Form der Terroristen wird Henry mit einer Ideologie konfrontiert, die völlig konträr zu seinem bisherigen Weltbild ist. Und wir Leser müssen uns der Frage stellen, ob wir die Romanwelt nicht die ganze Zeit viel zu sehr durch Henrys Brille gesehen haben. Die Sichtweise also von jemandem, der durch ein Kindheitserlebnis traumatisiert wurde und sich nach nichts mehr sehnt als nach Ordnung. Hat Henry das USMS und die Gesellschaftspolitik seiner Welt deshalb zu unkritisch gesehen? Ist die Romanwelt am Ende gar nicht so positiv, wie wir die ganze Zeit dachten?

"The Municipalists" ist letztlich die Geschichte einer Selbstfindung und zeichnet den Weg von jemandem, der gebrochen war, ohne sich dessen wirklich bewusst zu sein, zu einem vollständigen Menschen. Im Zuge dessen mündet der Roman in eine Conclusio, die mir in Zeiten hysterischer Polarisierung zu jedem noch so banalen Sachthema zutiefst sympathisch ist. Große Empfehlung!