Foto: Mythic Island Press

Hier kommt das richtige Buch für alle, die Space Operas im Stil von James Corey, Vernor Vinge oder Alastair Reynolds als das Nonplusultra der Science Fiction ansehen. Ganz besonders sogar Alastair Reynolds, denn dessen erfolgreicher "Revelation Space"-Zyklus wurde maßgeblich von Linda Nagatas "Nanotech Succession"-Reihe beeinflusst. Diese ist in vier Bänden in den Jahren 1995 bis 1998 erschienen und bildet in ihrer Gesamtheit eine waschechte Future History, die von quasi morgen bis in eine ferne transhumane Ära reicht. Nach einer Reihe von Romanen aus der nahen Zukunft (die "Red"-Trilogie und "The Last Good Man") ist Nagata nun nach 20 Jahren in dieses fantastische Universum zurückgekehrt und dabei so gut in Form wie eh und je.

An der Grenze und im Kern

Bis zur Romangegenwart sah der große Rahmen so aus: Über Jahrtausende hinweg hat sich die Menschheit Schritt für Schritt in der Galaxis ausgebreitet. Eine natürliche Grenze wurde erreicht, als man im Gebiet der Chenzeme ankam. Diesen Namen haben die Menschen den Roboterschiffen einer vermutlich längst untergegangenen Zivilisation gegeben, die seit 30 Millionen Jahren durch den interstellaren Raum patrouillieren und jede Zivilisation, auf die sie treffen, auslöschen. (Wer sich jetzt an Reynolds' Unterdrücker erinnert fühlt: Nagata war vor ihm da.)

Zugleich zeigt der Blick durchs Teleskop, dass sich auf den älteren Siedlungswelten bis zurück zur Urheimat Erde unbegreifliche Dinge getan haben müssen. Sukzessive wurden die Sterne dort von Mega-Strukturen umhüllt – bis diese später wieder verschwanden; ob zerstört oder planmäßig demontiert, kann niemand sagen. Denn ein technologisches Wunder wurde leider nie bewältigt: Die Lichtgeschwindigkeit kann nicht überschritten werden. Und niemand kann angesichts der Chenzeme-Bedrohung das Wagnis einer Jahrhunderte oder Jahrtausende währenden Raumreise eingehen. Was sich im Kernsektor der Menschheit – den sogenannten Hallowed Vasties – getan hat und ob dort nun Götter leben oder gar nichts mehr, bleibt also ein Rätsel. "Edges" und die darauf folgenden Bände der neuen "Inverted Frontier"-Reihe werden dieses 20 Jahre alte Geheimnis nun endlich lüften.

"Edges" beginnt im Sternsystem Deception Well, in dem sich eine Kolonie von Menschen seit Jahrhunderten erfolgreich vor den Chenzeme verbirgt. Nach 700 friedlichen Jahren taucht nun plötzlich eines von deren Roboterschiffen am Rand des Systems auf. Doch zur Erleichterung aller ist es kein Angriff – das Schiff wurde vom Abenteurer Urban gekapert. Der sammelt nun seine alte Weggefährtin Clemantine und ein paar Dutzend Freiwillige für eine längst überfällige Langzeitexpedition auf: Es gilt herauszufinden, was in den Hallowed Vasties geschehen ist. Eine wahrlich atemberaubende Queste nimmt ihren Anfang.

Transhumane Existenzen

Eingangs ist schon das Wort "transhuman" gefallen, und ungefähr ein Viertel des Romans wird man brauchen, sich daran zu gewöhnen, was das bei Nagata konkret bedeutet. Schon in ihrer Standardversion sind alle Menschen mit einer neuronalen Schnittstelle zwecks Vernetzung und einer Unzahl von Makers genannten Nanomaschinchen, die ihren ganzen Körper durchfluten, ausgestattet. Doch ist Körperlichkeit nur eine Möglichkeit von mehreren. Es kann auch jeder eine Kopie seines Bewusstseins (einen Ghost) erstellen, die dann entweder als der Wirklichkeit nachempfundenes Abbild in einer virtuellen Welt agiert – oder wie im frühen Cyberpunk als körperlose Entität durch die Netzwerke strömt. Das Wort "Avatar" steht in dieser Zukunftswelt ironischerweise für den feststofflichen Körper – bzw. einen Körper, da man sich auch von dem nach Belieben neue Kopien ausdrucken lassen kann.

Nagata entspinnt daraus ein Szenario, das die Sinne nicht weniger verwirrt als Ann Leckies "Die Maschinen". Denn natürlich lässt sich nicht nur eine digitale Kopie erstellen (und im Bedarfsfall editieren), sondern unbegrenzt viele. Wir werden es also mit Protagonisten zu tun bekommen, die an verschiedenen Orten zugleich sein können. Werden diese Ableger wieder miteinander verschmolzen, verfügt die betreffende Person anschließend über Erinnerungen an sämtliche Erlebnisse. Nichtsdestotrotz ist jede Version die Person, was einige Expeditionsteilnehmer vor gehörige Schwierigkeiten stellt.

Die pragmatische Clemantine schafft den Spagat, eine Version von ihr auf die Reise zu schicken und eine andere zur Sicherheit daheim in Deception Well zu lassen. Die junge Wissenschafterin Pasha hingegen kann das nicht. Denn jede Kopie von Pasha ist Pasha in ihrer Gesamtheit – und auch mit dem Wissen, dass eine Version von ihr aufbricht, könnte doch die andere, die zurückbleiben soll, den Gedanken nicht ertragen, die Wunder der Hallowed Vasties zu verpassen. Also: Should I stay or should I go? Trotz ihrer technologischen Möglichkeiten stehen die transhumanen Menschen vor den gleichen Dilemmata wie eh und je – man kann sich bei Nagata darauf verlassen, dass sie auf die psychologische Seite nie vergisst.

Jede Menge Spannungsfaktoren

Aus dem Zusammenspiel der Charaktere, insbesondere Urban und Clemantine, bezieht der Roman ebenso viel Spannung wie aus dem Rätsel der Hallowed Vasties und der Bedrohung durch die Chenzeme. Es wird zu Kampfhandlungen kommen – und die sind umso unheimlicher, weil sie in Nagatas Zukunftswelt nicht mit Raketen und Lasern ausgetragen werden, sondern mit Schwärmen von Mikro- und Nanosonden, die den Gegner infizieren. Auf die gleiche Weise hat Urban einst das Chenzeme-Schiff, das er nun stolz "Dragon" nennt, unter Kontrolle gebracht ... so einigermaßen jedenfalls. Denn nach wie vor ist es ein Dauerkampf, die Immunabwehr des Schiffs in Schach zu halten, das seine menschliche Besatzung als fremde Parasiten wahrnimmt. "I feel like I've got my foot forever on the throat of an old murderer who would overthrow me and slash my throat if I ever once allow an opening", stöhnt Urban. Es ist eine wesentlich brisantere Art, unbekannte Regionen zu erkunden, als mit dem Raumschiff Enterprise.

Und dann ist da noch zu guter Letzt der große Unbekannte, mit dem uns die Autorin in einer Reihe von in zweiter Person erzählten Zwischenspielen konfrontiert. Wir wissen für lange Zeit nicht, wer, wo und wann das ist – nur dass hier eine mächtige Entität dabei ist, ins Leben zurückzukehren. Und auf Rache sinnt.

Zur Kontinuität

Sowohl das Sternsystem Deception Well als auch die Hauptfiguren Urban und Clemantine haben in früheren "Nanotech Succession"-Romanen bereits zentrale Rollen gespielt. Da diese nie ins Deutsche übersetzt wurden, ist nicht anzunehmen, dass allzu viele SF-Fans hierzulande sie kennen. Aber auch für die englischsprachige Welt liegen "Deception Well" (1997) und "Vast" (1998) lange zurück. Darum ist es eine etwas unglückliche Entscheidung Nagatas, vieles von der Dynamik zwischen Urban und Clemantine auf die damaligen Geschehnisse zurückzuführen, ohne diese für neue Leser noch einmal kurz zu rekapitulieren. Sie lässt uns absichtlich im Dunkeln, was etwas frustrierend ist – das einzige Manko an "Edges". Positiv formuliert könnte man auch sagen: "Edges" macht großen Appetit darauf, zumindest "Vast" (noch einmal) nachzulesen.

Dass der neue Roman mit einem Cliffhanger endet, sollte hingegen nicht für böses Blut sorgen. Er ist ja als Auftakt eines mehrteiligen Werks deklariert. Und auch wenn ich bei weitem nicht jede Reihe nach dem ersten Band weiterverfolge – hier muss ich ganz im Sinne von "Es war einmal der Mensch" unnnnnbedingt gucken, wie's weitergeht. Teil 2 ist mittlerweile heraußen und wird in der nächsten Rundschau besprochen werden.