Überall waren sie jetzt wieder zu hören: die typischen einfältigen – und besonders bei den Grünen beziehungsweise ihren Anhängern überaus beliebten – Politikerfloskeln, die stets schon automatisch und in vorauseilendem Gehorsam hervorgezogen werden, wenn es darum geht, sich dafür zu rechtfertigen, dass man sich verbiegt: "Wir müssen Kompromisse machen", "Man muss in der Politik auch Kompromisse machen können", "Politik machen heißt eben Kompromisse machen".

Echt jetzt?! Der Planet wird gerade abgefackelt, via Internet kann man sich das Weltuntergangsszenario in Australien sozusagen live ansehen, den noch zurückhaltendsten Schätzungen zufolge kamen bisher eine halbe Milliarde Wildtiere qualvollst in den Feuern ums Leben, Sydney kratzt an der 50-Grad-Grenze; die riesigen Brände am Amazonas von vergangenem Sommer sind noch in Erinnerung – in Afrika ereignete sich übrigens Ähnliches, auch wenn das nicht so an die Öffentlichkeit drang, desgleichen in den borealen Waldgebieten Sibiriens, Alaskas, Kanadas und Grönlands – und das war alles, was Grün-Politiker und ihre Anhänger zu sagen hatten?!

Es ist geradezu rätselhaft: Anstatt die Macht dieses Moments zu nützen und mit dem, was sich da gerade in Australien abspielt, Druck zu machen, taten Werner Kogler und Konsorten so, als ob es das alles nicht gäbe, ruhten sich typisch österreichisch auf gemütlichen Politikerfloskeln aus und speisten uns damit ab! Ist es das, was Greta Thunberg gewollt hat, wenn sie vom brennenden Haus gesprochen und gesagt hat: "I want you to panic"?! Ganz sicher nicht.

Warum Bourdieu lesen hilft, Politik zu verstehen

Das Irreführende an Floskeln der Sorte "In der Politik muss man eben Kompromisse machen" besteht überdies darin, dass hier suggeriert wird, dabei würde es sich um zwei Partner handeln, die einander auf Augenhöhe begegnen und dann irgendwo einen Mittelweg zwischen ihren Forderungen finden. Diese "Kompromisse" wären also logische Auswirkungen eines ausgewogenen demokratischen Systems.

So ist es aber nicht. Und so funktioniert die Politik westlicher Demokratien auch nicht. Vielmehr besteht sie darin, dass Emporkömmlingen und zuerst als "Alternative" zur herkömmlichen Politik in Erscheinung getretenen Außenseitern, die das Volk ins Parlament wählt, weil es eben etwas anderes will, von den tatsächlich machthabenden Gesellschaftsschichten ihr Non-Konformismus schon nach und nach ausgetrieben wird. "Kompromiss" ist hier ein Euphemismus für den Umstand, dass jeder, der sich in der Politik längerfristig behaupten will, zur Anpassung an die bestehenden Machteliten und auch zur innerlichen Unterwerfung unter die ihnen zugehörenden Ideologien gezwungen wird. Das ist das, was gerade mit den Grünen passiert – beziehungsweise schon lange mit ihnen passiert ist.

Wer das besser verstehen will, dem kann ich die – leider nicht leicht lesbaren, aber aufschlussreichen – Werke des französischen Soziologen Pierre Bourdieu empfehlen, des wichtigsten Machttheoretikers neben Michel Foucault, der wohl am besten begriffen hat, wie sich bestehende Machtkasten in den modernen westlichen Gesellschaften am Leben erhalten, reproduzieren und die herrschende Politik gegen jedwede fundamentale Änderungen abschirmen.

Die Grünen: schon lange Konformisten

Man kann dies aber auch in concreto an unzähligen Beispielen ablesen, von der seltsamen Laufbahn des SPÖ-Funktionärs Josef Cap angefangen – der als wilder Parteirebell begann, nur um später als ihr Chefredner am wortgewaltigsten alle Kritik an der herrschenden Politik niederzumachen – bis hin zum griechischen Ex-Ministerpräsidenten Alexis Tsipras, der trotz seiner parlamentarischen Mehrheit an der kurzen Leine der EU-Machtkaste laufen musste und letztlich daran gescheitert ist.

Selten aber ist man in der Weltgeschichte solchen von vornherein gefügigen Aufsteigern begegnet wie den Grünen. Und selten gab es irgendwo eine andere Partei, die von vornherein aus derart unterwürfigen  Wendehälsen bestand, ganz angetan davon, mit sofortiger Wirkung die eigenen Wurzeln zu verleugnen, sobald es darum geht, an die Macht zu gelangen.

Und nein, das ist alles andere als neu bei den Grünen, das kennt man so schon lange von ihnen: Von zahllosen Beispielen aus der österreichischen Landtagspolitik oder auch aus der politischen Geschichte der deutschen Grünen, die man in diesem Zusammenhang erwähnen könnte, will ich hier nur ein Wort nennen, das gleich jeder versteht: Heumarkt.

... hat es für dieses Regierungsprogramm wirklich so viel Mut gebraucht?
Foto: Matthias Cremer/derstandard.at

Perverse politische Kultur

Es gibt in der jüngeren politischen Geschichte allerdings auch ein großes Gegenbeispiel, das zeigt, wie Machtergreifung wirklich funktionieren kann. Die Political Correctness nämlich und alle Bewegungen, die mit ihr zusammenhängen, unter ihnen voran #MeToo.

Haben sich diese Bewegungen etwa auf irgendwelche Kompromisse eingelassen? Nein. Ihr Erfolg bestand gerade in ihrer Radikalität und Militanz. Gnadenlos wurde jeder, der sich ihnen entgegengestellte, als "Sexist" und "Rassist" abgefertigt. So hat man nach und nach die Macht im öffentlichen Diskurs übernommen.

Es ist erstaunlich, zeigt aber, wie unsere Gesellschaft funktioniert, wo sie "Kompromisse" abverlangt - und wo nicht: Dort also, wo es bloß um einen symbolischen Umsturz geht, um Sprach- und Benimmregelungen – mehr beinhaltet die Political Correctness ja nicht, sie ist darum die Pseudo-Revolution schlechthin, ein Ersatz für die echte Revolution oder irgendwelche wirklichen gesellschaftlichen Veränderungen – dort also ist Kompromisslosigkeit möglich.

Dort aber, wo sie wirklich notwendig wäre, wo es um Leib und Leben geht, um unseren brennenden Planeten, um die Erde, die gerade am Sterben ist, da, wo also höchste Not herrscht – da erzählt man sich nun stattdessen den angesichts des Ernstes der Lage geradezu schon perversen Politikerwitz von den "notwendigen Kompromissen" und begnügt sich mit vagen Willensbekundungen. So schaut das Regierungsprogramm auch aus. 

Anmerkung des Bloggers: Ich hätte an dieser Stelle im Prinzip auch andere Phrasen zerpflücken können, die man uns während der Koalitionsverhandlungen nicht erspart hat. Etwa "Verantwortung übernehmen" oder die Rede von der "Gereiftheit" der Grünen. Allen diesen Wendungen ist gemeinsam, dass sie gewichtig und einleuchtend klingen, dass sie aber mehr cachieren, als sie offen legen. Sie haben damit in der Tat eine bedeutsame politische Funktion, nämlich die, uns den Geist zu vernebeln: Indem sie uns so oft vorgeplappert werden, bis wir sie nur mehr hypnotisiert nachplappern, geben sie uns alles in die Hand, um uns damit selbst zu verdummen. (Ortwin Rosner, 9.1.2020)

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