Im Gastkommentar begründet die Politikwissenschafterin Nina Scholz, warum dieses türkis-grüne Vorhaben sinnvoll ist und auch der Islamischen Glaubensgemeinschaft nützen würde

Kanzleramtsministerin Susanne Raab soll die Linie der ÖVP gegen Parallelgesellschaften und den politischen Islam fortsetzen.
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Im türkis-grünen Regierungsprogramm wird erwartungsgemäß an vielen vorherigen Vorhaben festgehalten, etwa an der Ausweitung des Kopftuchverbots in Schulen bis zum 14. Lebensjahr oder der Schaffung einer "unabhängigen staatlich legitimierten Dokumentationsstelle für den religiös motivierten politischen Extremismus (politischer Islam)". Seither gehen die Wogen im islamischen Dachverband IGGÖ hoch. Die Kritik dreht sich insbesondere um den Begriff "politischer Islam". Wie schon auf einer von der IGGÖ veranstalteten Konferenz zu dem Thema im Frühjahr vergangenen Jahres wurde dieser generell zurückgewiesen und behauptet, damit solle jegliches politische Engagement von Menschen muslimischen Glaubens verhindert werden. Nun verlautbarte der Präsident der IGGÖ, Ümit Vural, in einer Aussendung, der Begriff stigmatisiere und kriminalisiere "pauschal alle in Österreich lebenden Musliminnen und Muslime". Die Einrichtung einer solchen Dokumentationsstelle brandmarke Muslime "als staatsgefährdende Bedrohung".

In der Forschung werden die für das zu beschreibende Phänomen meist synonym verwendeten Begriffe "politischer Islam" oder "Islamismus" nun gerade nicht pauschalisierend allen Musliminnen und Muslimen übergestülpt. Im Gegenteil, der Begriff "politischer Islam" hat sich etabliert, weil mit ihm fundamentalistische ideologische Strömungen, die den Islam als Staats- und Herrschaftsform etablieren wollen, von der Religion als spiritueller und persönlicher Angelegenheit, deren Ausübung durch das Recht auf Religionsfreiheit verbürgt ist, geschieden werden können.

Vorbild DÖW

Präsident Alexander Van der Bellen im Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands, das Türkis-Grün als Vorbild für eine Dokumentationsstelle für politischen Islam dient.
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Warum eine Dokumentationsstelle? Anhänger eines politischen Islam zeichnen sich grob gesagt dadurch aus, dass sie die bestehende säkulare demokratische Ordnung durch ein auf islamischen Vorstellungen basierendes System ersetzen wollen, also ein staatspolitisches Ziel verfolgen. Hierzu zählen – bei vielen unterscheidenden Merkmalen – gewaltlegitimierende Gruppen, etwa aus dem wachsenden salafistischen Milieu, und legalistisch operierende, die ihrer Utopie unter Ausnutzung demokratischer Mittel näherkommen wollen, den berühmten Marsch durch die Institutionen antreten und an politische Parteien und NGOs andocken.

Der gewalttätige Extremismus ist nur ein Bereich, der uns Sorge bereiten sollte. Legalistische Strömungen versuchen, über eigene Bildungseinrichtungen und Moscheevereine Kinder und Jugendliche zu einem ihren Vorstellungen entsprechenden islamkonformen Leben anzuleiten. Zur Erfassung der Aktivitäten, Strukturen und Ziele der einzelnen Vereine und Organisationen und als Voraussetzung für Extremismusprävention scheint eine zentrale Dokumentationsstelle nach dem Vorbild des DÖW, das Rechtsextremismus dokumentiert und erforscht, dringend notwendig. Das DÖW äußerte sich schon im Vorjahr grundsätzlich positiv zum Plan einer neuen Dokustelle.

Breites Spektrum

Zu den größten Gruppierungen aus dem Spektrum des politischen Islam gehören die Muslimbruderschaft und die türkische Millî Görüş (deutsch: Nationale Sicht), die auf verschiedensten Ebenen eng zusammenarbeiten. Von den Leitsätzen des Gründers der Bruderschaft, Hasan al-Banna, hat sich bis heute weltweit keine der Muslimbruderschaft zugehörende oder nahestehende Organisation distanziert. Sie lauten: "Gott ist unser Ziel. Der Prophet ist unser Führer. Der Koran ist unsere Verfassung. Der Jihad ist unser Weg. Der Tod für Gott ist unser nobelster Wunsch."

Aus den Kreisen der Millî-Görüş-Bewegung wiederum ist bislang keine Distanzierung von den Aussagen ihres Gründervaters Necmettin Erbakan bekannt. Dessen Schriften und Aussagen proklamieren ein eindeutiges Ziel, die Errichtung einer auf dem Islam gründenden "Weltordnung", und sind mit antisemitischen Verschwörungstheorien durchsetzt. 2010 sagte er etwa in einem Interview mit der "Welt": "Seit 5.700 Jahren regieren Juden die Welt. Es ist eine Herrschaft des Unrechts, der Grausamkeit und der Gewalt." Angesichts der anhaltenden Verehrung Erbakans wäre Millî Görüş auch ein Fall für die von der neuen Regierung ebenfalls geplante Dokumentationsstelle Antisemitismus.

Wenig Wissen

Dass Gruppierungen des politischen Islam bislang weitgehend unbeachtet von der Öffentlichkeit agieren konnten, liegt nicht zuletzt daran, dass wenig Wissen über deren Ideologie, Strukturen und Strategien vorhanden ist. Anders als beim Rechtsextremismus gibt es bislang im gesamten deutschen Sprachraum keine Dokumentationsstelle, die sich professionell mit islamistischen Strukturen und Akteuren beschäftigt. Mangelndes Wissen ist neben Desinteresse und Wunschdenken der Grund dafür, dass Politikerinnen und Politiker, aber auch NGOs immer wieder dazu beitragen, gerade problematische Akteure durch Besuche und gemeinsame Projekte aufzuwerten, etwa die der Muslimbruderschaft angehörende Liga Kultur oder der den rechtsextremen islamistischen Grauen Wölfen zugehörige Verein Avrasya Linz. Eine Dokumentationsstelle könnte hier aufklären und profunde Informationen und Forschungsergebnisse für Politik, Wissenschaft, Journalismus und alle Interessierten zur Verfügung stellen.

Mit dieser Stelle würde Österreich eine Vorbildfunktion im deutschsprachigen Raum einnehmen. Voraussetzung dafür wäre eine von Regierung und Parteien unabhängige Institution mit einem qualifizierten, mehrsprachigen Recherche- und Forschungsteam, das von einem wissenschaftlichen Beirat begleitet wird. Sie könnte zu einem Zentrum der Forschung über den politischen Islam werden und im Bereich Islamismus das leisten, was das DÖW im Bereich des Rechtsextremismus leistet.

Auch die IGGÖ könnte von einer solchen Institution profitieren, um islamistische Positionen im Dachverband zu identifizieren und auszugrenzen. Vielleicht aber ist es gerade die intensivere wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema und die angestrebte Aufklärung über islamistische Strukturen, die die IGGÖ in ihrer gegenwärtigen Verfasstheit fürchtet, sind doch wichtige Funktionen mit Personen besetzt, die aus der Millî-Görüş-Bewegung stammen, etwa die des IGGÖ-Präsidenten. (Nina Scholz, 8.1.2020)