Mehr als 20 Zweitausender hat das montenegrinische Durmitorgebirge zu bieten – und ein Mikroklima, das oft für eine drei Meter hohe Schneedecke sorgt.

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Als Schmuckstücke dekorieren 18 Gletscherseen die Landschaft, die sogenannten Waldaugen. Diesem Spitznamen werden sie im Winter – zugefroren und schneebedeckt – weitgehend gerecht.

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Bei jedem Schritt dieses tiefe, dunkle Knirschen im Schnee. Gedämpft, so als würde der vermeintliche Schöpfer der weißen Ware den Ton mit einem Tuch abschwächen, damit er die Bären im Winterschlaf nicht erschreckt. "Sollte Gott jemals Berge erschaffen haben, muss es wohl das Durmitorgebirge gewesen sein", sagt Zoran Pavićević. Dabei leuchten seine Augen aus den Tälern des wettergegerbten Gesichts.

Der Montenegriner ist einer der nationalen Wetterfrösche in dem Wintersportort Zabljak, dem auf 1.450 Metern höchstgelegenen Ort in Montenegro. Von einem Hügel mitten im Dorf meldet er die Wetterveränderungen an die Hauptstadt Podgorica für die Nachrichten. Jede Stunde werden 24 Daten wie Temperatur, Luftdruck, Windgeschwindigkeit, Feuchtigkeit und Wolkenbewegung gemessen.

Lieblingswolke

An diesem Tag muss Zoran die Ergebnisse per Telefon durchgeben, da der Computer ausgefallen ist. Dabei lassen 38 Jahre Berufserfahrung die meteorologischen Fachausdrücke nur so aus seinem Mund purzeln. Eine langweilige Arbeit? "Nein, nie", protestiert er. "Wenn man einmal tiefer ins Wetter eingestiegen ist, ist es faszinierend." Besonders die Wolkenbildung begeistert ihn. Er kramt ein Buch hervor und blättert zu seiner Lieblingswolke, die aussieht wie dramatisch aufgetürmte Karfiole. Sie bringt im Winter reichlich Schnee, besonders wenn sich zuvor kaltes Festlandklima mit feucht-warmer Adrialuft mischt. Oft türmt sich die weiße Pracht drei Meter hoch und bleibt ein halbes Jahr liegen.

Eisfelder und Zweitausender

Durch diesen Tiefschnee geht es nun vorbei an Tannen, die weiße Mäntel tragen. Hin und wieder befreit sich ein Ast von seiner Winterkleidung und stößt mit einem Tusch die schweren Eiskristalle von sich. Je höher man mit den Schneeschuhen steigt, desto mehr lichtet sich der Wald – bis plötzlich das imposante Durmitorgebirge vor der Nase aufragt. Ein Panorama, das man so in Montenegro nicht vermutet hat: eine Steilwand, die Kletterherzen höher schlagen lässt, und ein Gebirge mit 22 Gipfeln, die höher als 2.000 Meter sind. Darunter Eisfelder, die das ganze Jahr über nicht schmelzen.

Nur ein paar Autominuten von Zabljak entfernt liegt das bei Einheimischen beliebteste Skigebiet Savin Kuk. Kein Skizirkus, wie man ihn aus den Alpen kennt, aber immerhin bringen zwei Sessellifte die Skifahrer auf 2.200 Meter Höhe, wo anfangs ein steiles Stück hinab auf die weniger schweren Pisten führt.

Schwarze Wimpern

Für Schneeschuhwanderer ist Montenegro ein noch besseres Revier. "Schneeschuhe kennt man hier seit der ersten Besiedelung. Anfangs bastelte man sie selbst aus Holz und fertigte Riemen aus Rindsleder an. Man wäre sonst im Winter gar nicht vom Fleck gekommen", sagt Pavićević.

Einige Gehminuten hinter dem Ort beginnt der Nationalpark Durmitor, der mit 39.000 Hektar fast so groß ist wie Wien und der zweitgrößte von sechs Nationalparks in Montenegro. Den Namen hat er von einer römischen Karawane, die einst durch die Berge zog und hier übernachtete ("dormir" für "schlafen"). In den Bergen und tiefen Taleinschnitten hat sich über Jahrhunderte eine von Menschen unberührte Wildnis entwickelt mit mehr als 1.500 Pflanzen- und 130 Vogelarten. In den Wäldern leben Bären, Luchse und Wölfe. Als Schmuckstücke dekorieren 18 Gletscherseen die Landschaft, die sogenannten Waldaugen. Diesem Spitznamen werden sie im Winter – zugefroren und schneebedeckt – weitgehend gerecht. Es fehlen zwar die Pupillen, aber dunkle Tannen umgeben die wässrigen Augen wie schwarze Wimpern.

Wirbelndes Wasser

Ein Kontrast dazu ist die Tara. Der Fluss schlängelt sich 156 Kilometer durchs Land. Die Einheimischen nennen ihn "Träne Europas". Eine Schneeschuhwanderung führt durch die Wildnis des Durmitorgebirges zu einer Felskante, an der man von oben auf genau diesen Fluss schaut – und in die zweittiefste Schlucht der Welt. Nur der Grand Canyon weist einen größeren Höhenunterschied auf. Hier legen die Berghänge ihr Winterkleid oft schon früh im Jahr wieder ab.

"Hört ihr die Tara rauschen?", fragt Guide Nikola. Einen Moment lang hält man den Atem an und lauscht dem wirbelnden Wasser 1.300 Meter tiefer. Tatsächlich hört man das Wasser und auch den Wind, der in den Nadelwäldern herumfuhrwerkt. Am Horizont sind schon ein paar Gipfel des Nachbarstaats Bosnien und Herzegowina zu sehen. Von der Aussicht beschwingt geht es wieder bergab durch den Tiefschnee.

Zurück im Ort führt ein Abstecher zum Bauernhof von Dragan. Der 60-Jährige hat fünf Kühe, ein paar Ziegen, ein Schaf und stellt Joghurt, Rahm und Käse selbst her. Der Tisch biegt sich, es gibt auch noch Schinken, Blätterteigrollen und Zwetschkenschnaps. An der Wand hängen Fotos von Dragans Vater, einem früheren Offizier des Tito-Regimes.

Einsaitiger Zeitvertreib

Nach dem Essen greift Dragans Bruder auf Wunsch der Besucher zur Gusle, einer einsaitigen Gitarre, die ihren Platz hinter dem Fernseher scheinbar nicht mehr oft verlässt. "Damit haben sich früher die Soldaten am Abend die Zeit vertrieben", erzählt Dragan. Mit Melancholie in den Augen lauscht er den Tönen, die er produziert. Dann kramt er ein weiteres altes Musikinstrument hervor, eine Art Doppelblockflöte, und spielt noch ein Lied.

Draußen hat die Abendsonne den klaren Himmel in warmes Orange getaucht. Doch bald werden sich wieder Pavićevićs Lieblingswolken am Himmel türmen und neuen Schnee verheißen. Dabei fallen einem die letzten Worte ein, die der Wettermann und deklarierte Freund des Sommers auf dem Berg verkündete: "Wenn Gott jemanden bestrafen will, dann lädt er ihn im Winter nach Zabljak ein." Schneeschuhwanderer sehen das natürlich ganz anders. (Monika Hippe, 12.1.2020)