Vor zehn Jahren verlor die Haitianerin Françoise Renfort ihr gesamtes Hab und Gut. Die Erdstöße vom 12. Jänner 2010 erwischten die damals 33-Jährige an ihrem Marktstand in der Hauptstadt Port-au-Prince. Das eiserne Gerüst mit dem Wellblechdach stürzte ein. Renfort konnte sich retten – im Gegensatz zu vielen ihrer Arbeitskollegen, die zögerten, ihre Waren zurückzulassen. Sie gehörten zu den mehr als 200.000 Menschen, die bei der Naturkatastrophe ihr Leben verloren.

Als Renfort Stunden später zu Fuß durch Staubwolken und Schuttberge an der Küste in ihrem Viertel Cité Soleil ankam, lag ihre Hütte in Trümmern – aber wenigstens hatten sich ihre beiden Kinder und ihr Mann retten können. Die dramatischen Stunden, aber auch die chaotischen Wochen danach haben sich tief in ihr Gedächtnis gegraben.

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Ein Bild eines Massengrabs nahe Port-au-Prince vom 11. Jänner 2011. Bei dem Erdbeben sind mehr als 200.000 Menschen gestorben.
Foto: REUTERS/Jorge Silva

Da waren die vielen Journalisten und NGOs, die plötzlich in ihrem sumpfigen Slum am Meer auftauchten, Fragen stellten, Zelte brachten, Fotos knipsten und Hilfe versprachen. Dann die UN-Blauhelme, die den kriminellen Gangs in Cité Soleil rasch Einhalt geboten – in deren Schusswechseln aber auch manch Unbeteiligter eine Kugel abbekam und deren Soldaten so manches haitianische Mädchen schwängerten – und die dann auch noch die Cholera einschleppten.

Promis halfen mit

Die internationale Staatengemeinschaft versprach Millionen für den Wiederaufbau, Stars wie Sean Penn und Politiker wie Ex-US-Präsident Bill Clinton gaben sich in Port-au-Prince die Klinke in die Hand. Es fühlte sich vielversprechend an. Wie eine Chance für das Armenhaus der westlichen Hemisphäre.

Auf die Frage nach ihrer Bilanz zehn Jahre später zögert die schlanke Frau mit dem Kurzhaarschnitt lange. "Wir hatten uns mehr erhofft", sagt Renfort dann. Viele Helfer waren nur kurze Zeit da, verteilten ein paar Säcke Reis, ließen die Bewohner Zettel unterschreiben und verschwanden wieder. Aber in Cité Soleil wurden auch Brücken und Abwasserkanäle gebaut, Brunnen gebohrt, Straßen geteert.

"Ich will nicht undankbar sein. Ich konnte mir dieses Haus aus Blöcken und Zement bauen", sagt Renfort und zeigt stolz auf ihre noch unverputzte und nur halb geflieste Veranda. Selbstgebaut. Die Hausbauprojekte der internationalen Gemeinschaft scheiterten größtenteils, weil es auf Haiti kein zuverlässiges Grundbuch gibt. Das Risiko von Rechtsstreiten oder späteren Vertreibungen wollte keine NGO eingehen. Der Staat ließ die Gelegenheit zur einer Bodenreform verstreichen.

Angst vor Hungersnot

Viele Chancen wurden so vergeben. "Weil wir keinen Plan für unser Land haben und letztlich immer Partikularinteressen siegen", sagt der Unternehmer und Politikberater Paul Gustave Magloire. Zehn Jahre später sind die UN-Soldaten abgezogen und die Gangs nach Cité Soleil zurückgekehrt. Strom gibt es kaum noch, weil der Staat seine Schulden beim privaten Betreiber nicht begleicht. Inflation und Währungsverfall haben die von Importen abhängige Wirtschaft in die Krise gestürzt. Hilfsorganisationen befürchten eine Hungersnot.

Die durch das Beben zerstörte Kathedrale von Port-au-Prince ist bis heute nicht wiederaufgebaut worden.
Foto: EPA/ORLANDO BARRIA

Der mit Unterstützung der USA zum Wahlsieger ausgerufene Präsident Jovenel Moïse ist derart unbeliebt, dass er sich nur mit schwerbewaffneter Polizeieskorte in die Öffentlichkeit wagt. Seit dem Sommer legen gewaltsame Proteste das Land lahm, nachdem der Rechnungshof bekanntgab, dass venezolanische Hilfe in Millionenhöhe von Politikern und Unternehmern veruntreut worden ist – auch Firmen von Moïse tauchen in dem Bericht auf. Selbst sinnvoll eingesetzte Hilfsgelder sind verpufft. Mangels Wartung funktionieren die von der Uno installierten Solarlaternen nicht mehr; damals geteerte Straßen sind längst wieder Schlaglochpisten.

Autoritätsverlust der Politiker

Wer hat versagt? "Alle", antwortet der Soziologe Auguste D'Meza und skizziert dann das Schema eines Beutestaats: "Alle Politiker wollen sich nur bereichern und haben darüber jegliche Autorität verloren. Die internationale Gemeinschaft hat staatliche Aufgaben übernommen, aber viele internationale Funktionäre haben sich ebenfalls bereichert. Jetzt, wo die Blauhelme weg sind, kann der Staat nicht einmal mehr die Sicherheit garantieren. Wir stecken in einer Legitimitätskrise."

Und die sei auch nicht mit Wahlen oder einem Wechsel an der Staatsspitze zu beheben, sagt D'Meza. Einen Systemwechsel fordern inzwischen nicht nur Intellektuelle und Oppositionelle, auch Renfort sagt, so könne es nicht weitergehen: "Unsere Kinder gehen hungrig zur Schule, die Wirtschaft ist wegen der Sicherheitslage lahmgelegt, und wir sind wegen der Gewalt mit den Nerven am Ende."

Aber Renfort legt die Hände nicht in den Schoß. In einem Land, in dem mehr als zwei Drittel der Bevölkerung weniger als zwei US-Dollar am Tag zum Leben haben, zählt sie sich zur Mittelschicht von Cité Soleil – sie hat einen Schulabschluss und ihr Mann als Hilfspolizist einen festen Job. Das erlaubt ihr, ein klein wenig weiter zu denken als nur daran, wie sie die nächste Mahlzeit auf den Teller bringt. Ihre Tochter macht eine Ausbildung zur Krankenschwester, ihr Sohn steht kurz vor der Matura. Sie gründete nach dem Beben mit Nachbarn und Exilhaitianern einen Bürgerverein, um Hilfsgelder sinnvoll zu kanalisieren.

Françoise Renfort hat einen Bürgerverein gegründet, um Hilfsgelder sinnvoll einzusetzen.
Foto: Sandra Weiss

Trinkwasser zu solidarischen Preisen

Das Rassemblement des Rapatriés Haïtiens et des Citoyens Progressistes (RRHCP) gibt es bis heute. Der Verein baute mithilfe von Malteser international (MI) Wasseraufbereitungsanlagen und organisiert noch immer die Trinkwasserverteilung zu solidarischen Preisen im Viertel – so werden die oft unverschämten Zwischenhändler ausgeschaltet. Die Mitglieder schützen die wiederaufgeforsteten Mangroven und damit das Einkommen der lokalen Fischer und verteilen paarweise Ziegen an alleinerziehende Mütter, die so eine Erwerbsgrundlage bekommen.

All das ist kein Neuanfang. Aber es ist eine Lektion, wie langwierig Entwicklung manchmal ist – viel komplexer, als ein Funktionär in Berlin oder Washington sich das am Schreibtisch ausdenkt. Und es ist ein Lichtblick in einem Viertel, in dem die Menschen ihre Notdurft in Kübeln verrichten und diese anschließend in offene Abwasserkanäle kippen. In denen außerdem tonnenweise Müll schwimmt, den die Regengüsse aus der reichen Oberstadt bei den Ärmsten ablagern.

Wissen an lokale Partner weitergeben

RRHCP organisiert Brigaden, die den Müll aufsammeln. "Eigentlich müssten das die Reichen bezahlen", seufzt Deisie Joseph, MI-Projektmanager in Cité Soleil. "Das Wichtigste ist, Wissen an die lokalen Partner weiterzugeben", fügt Joseph hinzu. Nur aus eigener Kraft, ist er überzeugt, können sie alle gemeinsam ihr Land auf ein neues Fundament stellen. Eines, auf dem auch die Ärmsten eine Stimme haben. Zehn Jahre nach dem Beben steht Haiti erst am Anfang eines Neubeginns. (Sandra Weiss aus Port-au-Prince, 12.1.2020)