Ist eine Führungsaufgabe je eindeutig gewesen? Ich glaube nicht. Im Gegenteil: Nimmt man Leadership ernst, dann ist nie etwas so oder so, also eindeutig. Mehrdeutigkeit erfährt jetzt durch zunehmende Komplexität und fortwährende Beschleunigung größere Aufmerksamkeit und Dringlichkeit. Entscheidungen müssen trotz umfassender Daten und Studien unter Unsicherheit getroffen werden. Oder gar Entscheidungen, bei denen man keine Ahnung hat. Was tun wir in einer solchen Situation? Wir greifen zur erstbesten Lösung, halten am Status quo fest oder sehen Zusammenhänge, wo keine sind.

Wir alle sind konditioniert, schnelle Lösungen finden zu wollen. Und dennoch: Wenn unser Gehirn auf eine zweideutige Information trifft und wir nicht handeln können, nehmen wir mit der Zeit eine Opferrolle ein und werden passiv. Martin Seligman nannte dies die "learned helplessness", die erlernte Hilflosigkeit. Trotz der Überfülle aus Big Data können oft nur vermeintlich relevante Daten erfasst werden. Die Rasanz des Tagesgeschehens und der Märkte nötigt Leader, mit 50 Prozent Gewissheit weitreichende Entscheidungen und Maßnahmen zu setzen. Unser Gehirn versucht unsere Unsicherheitslücken zu schließen: durch Vereinfachung, durch Heuristiken, durch Routinen. Es versucht Eindeutigkeit herzustellen und Sachverhalte zu verkürzen.

Sehnsucht nach Eindeutigkeit

Personen, die Deutungsangebote liefern, die eindeutig sind, wie es beispielsweise Populisten tun, bringen nur scheinbar Erleichterung. Und natürlich kommt es immer wieder vor, Vieldeutigkeit und offene Enden bewältigen zu müssen. Es gilt, diese auszuhalten und sich zuzugestehen, dass nicht alles kontrollierbar und fassbar ist. Dass man wie im Nebel auf Sicht fahren muss. Dass immer eine Lücke bleibt, die "Unsicherheit" heißt und sich genauso anfühlt – das vielgemiedene Restrisiko.

Nun kommt dem Leadership eine wichtige Aufgabe zu: Wie interpretiere ich die Thematik, ohne das gesamte Bild zu haben? Und dies muss ich mit oder für das Team, das Unternehmen tun. Menschen benötigen eine Landkarte, um sich zu verorten, um zu wissen, wo sich das Unternehmen oder das Projekt befindet. Es kann sein, dass manche Entscheidungen falsch waren, aber in solchen Fällen wird Fehlertoleranz propagiert. Dann haben wir es zumindest in bester Absicht mit den damaligen Ressourcen und dem früheren Wissensstand probiert. Dann sind es eben gute, wertvolle Lernschritte gewesen.

Die relevanten Führungsfragen – von A bis Z, inklusive Sonderzeichen und dem Schlusspunkt.

Ich möchte aber Ambiguität auch breiter verstanden wissen: Sie bedeutet aus meiner Sicht auch, sich rasch auf Veränderungen einstellen zu können und zu müssen. Zu erkennen, dass wir längst die gewohnten Organisations-Change-Programme verlassen haben und uns – genauer formuliert – in einem Transformationskontinuum mit disruptiven Bedrohungen bewegen. Dabei geht es auf allen Ebenen um laufende Adaptivität, nämlich im engen und im weiten Sinne um persönliche und organisatorische Anpassungsleistung an neue Herausforderungen. Wir haben das sequenzielle Abarbeiten von Themen und Projekten großteils hinter uns und müssen oft mehrere Dinge gleichzeitig managen. Im Nu gelten dann plötzlich andere Regeln, und Pläne müssen neu justiert werden. Und auf ein Neues ...! Ambidextrie, die beidhändige Führungsmethode, ist ein Versuch, der Ambiguität des Führens zu entsprechen.

Laufend, gleichzeitig, divers

Es geht dabei darum, den unterschiedlichen Dynamiken des sogenannten "Exploit-Modus" (prozesshaftes Abarbeiten) und des sogenannten "Explore-Modus" (Experimentieren und Innovieren) gleichzeitig beizukommen. Das verlangt unterschiedliche Herangehensweisen: So ist man in den Bereichen oder Projekten, die Innovationen hervorbringen sollen, auf ein schnelles und risikofreudiges Klima bedacht. Hingegen ist man im Exploit-Modus, der sehr oft das bestehende Kerngeschäft betrifft, auf Genauigkeit und Optimierung angewiesen. So kommt es oft vor, dass Manager laufend und gleichzeitig in völlig diversen Modi bzw. Umfeldern arbeiten müssen.

Viele alte Gewissheiten und Haltegriffe sind außer Funktion oder reichen nicht mehr für diese neue Zeit aus. Ambiguität ist eine verstärkende Ausdrucksform des Wandels, in dem wir uns befinden und noch länger befinden werden. Deshalb ist es meiner Erfahrung nach nicht zielführend, Mehrdeutigkeit zu vereindeutigen, das geht auch gar nicht. Vielmehr liegt es an Ihnen, Ihre Teams und Unternehmen auf den Umgang mit "losen Enden" heranzuführen.

Das Bild von Trapezkünstlern bietet sich hier an: Wenn man sein Trapez nicht loslässt, dann kann man nicht das nächste Reck ergreifen, um auf die neue Plattform zu kommen. Daher muss man sich immer wieder selbst vertrauen und neu justieren, kurz loslassen, um in den neuen Modus zu gelangen. Der Moment des Fliegens kann sich dabei einsam und lang wie eine Ewigkeit anfühlen. (10.1.2020)