In einer Feldflasche aus Alu im Boden vergraben übermittelte Salmen Gradowski der Nachwelt seine Aufzeichnungen aus Auschwitz.

Foto: Militärmedizinisches Museum, St. Petersburg

Salmen und seine Frau Sonja Gradowski.

Foto: Privatbesitz der Familie Wolnerman

Am 27. Jänner vor 75 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. In den folgenden Tagen, Monaten und Wochen strömten polnische Schatzsucher in der Hoffnung auf den Fund kleiner Wertgegenstände und Goldzähne ebenso auf das Gelände des Konzentrationslagers wie Beweissammler. Letztere wollten Spuren sicherstellen, die bei der Aufarbeitung der Verbrechen und vor Gericht entscheidend sein könnten. Ein junger Pole stieß dabei im Boden neben einem der Krematorien auf eine Blechbüchse und darin auf in Jiddisch beschriebene Blätter.

Deren Autor erbittet vom Finder die Veröffentlichung der Zeilen, welche zumindest einen kleinen Teil der "Leiden und Nöte" der von den Nazis geschundenen Juden während ihres "‚Lebens‘ in der irdischen Hölle" festhalten sollen. Die Welt solle dafür "Rache üben". Der Name des Verfassers lautet Salmen Gradowski. Auf dem Gelände in einer Aluflasche gefunden wurden weiters ein Notizbuch und weitere Blätter Gradowskis, sie alle sind nun im Band Die Zertrennung versammelt.

Überleben im Sonderkommando

Schon bevor der gläubige Jude 1942 ins Lager deportiert wurde, wollte er schreiben. Gradowski ist Anfang 30, als er von den Nationalsozialisten nicht direkt in den Tod geschickt, sondern dem Sonderkommando von Auschwitz zugeteilt wird. Die dort eingesetzten Männer hatten die Aufgabe, neu angekommene Häftlinge in die Gaskammern zu führen und nach der Vergasung die Leichen wieder wegzuschaffen. Bevor sie die Leichen ins Feuer warfen, mussten sie von ihnen noch trennen, was Wert haben konnte, und nach der Verbrennung mussten sie erhaltene Knochen kleinmahlen und die Asche entsorgen. Fast zwei Jahre über- und erlebte Gradowski im Lager.

Er wusste folglich mehr über die Vorgänge dort als die meisten anderen Häftlinge. Einige aus dem Sonderkommando konnten wie Gradowski im Geheimen ihre Erlebnisse oder Listen von Transporten und Opfernamen niederschreiben. Die Erstellung solcher Schriftstücke als eine Art Archiv für die Zukunft, war Teamarbeit. Ein Vertrauter besorgte Gradowski ein Bett neben einem Fenster, damit er Licht zum Schreiben hatte, andere besorgten Papier und Wachsreste, um die Flaschen, in denen die Zettel vergraben wurden, zu versiegeln.

Widerständige Chronistenpflicht

Gradowski geht aber über die selbstgewählte widerständige Chronistenpflicht hinaus. Er verpackt Erlebnisse und Geschehnisse etwa in einen Spaziergang, zu dem er den Leser einlädt, und führt ihn zu Deportationen aus Schtetln, nimmt ihn mit in Güterwagons auf dem Weg in die Lager und sogar in die Gaskammer. Manche Todgeweihte wollen "einfach so reden, weil das Herz übervoll ist". Er spekuliert über zerrissene Familien und die Nöte getrennter Liebender. Das klingt getragen und oft sogar blumig. Gradowski will über das individuelle Leidempfinden hinaus und das Allgemeine beschreiben, dafür bedient er sich literarischer Mittel. Die Mondnacht hebt mit epischen, sich wiederholenden Strukturen an. Es ist ein poetischer Text über "die Mondin" (im Jiddischen ist der Mond feminin), die in Freiheit "eine Quelle von Leben und Glück für mich" war und die ihm jetzt das "schauerliche Heute" zeigt, wenn sie mit ihrem Licht scheint. Wie könne sie noch leuchten, gehen ihr die Millionen ausgelöschten Leben nicht ab?

Wo wir in der Literatur über Auschwitz mehr Nüchternheit gewohnt sind, steht Gradowski in einer jiddischen, religiös und poetisch gefärbten Tradition. Der Mond etwa ist dort ein gebräuchliches Motiv für das Gefühl der Gleichgültigkeit der Welt gegen antisemitische Gräueltaten. 200 Seiten des Bandes stammen von Gradwoski, beigestellt klären kundige Kommentare auf. (Michael Wurmitzer, 11.1.2020)