Im Gastkommentar kritisiert der Historiker Dirk Rupnow, dass im Regierungsprogramm von ÖVP und Grünen eine klare Strategie und Perspektive für Gedenkkultur fehlt.

Nach den Jubiläen ist bekanntermaßen vor den Jubiläen. So sicher, wie nach einer Regierung Kurz vor einer Regierung Kurz ist. Die Regierung Kurz II bekommt wie auch die Regierung Kurz I gleich zu Beginn ihres segensreichen Wirkens für das Land ein neues Gedenkjahr geschenkt: Im Regierungsprogramm wird auf 100 Jahre Salzburger Festspiele sowie 75 Jahre Kriegsende und Zweite Republik verwiesen. Das 100-Jahr-Jubiläum der Bundesverfassung wurde offenbar übersehen, obwohl sie in einem anderen Kapitel "auch nach 100 Jahren ihrer Geltung" als "das solide Fundament unserer Republik" gepriesen wird. Auch die Kärntner Volksabstimmung wurde vergessen. Vor allem aber wird die Geschichte der Salzburger Festspiele nicht auf den "beispiellosen Erfolg einer der zentralen Institutionen in der vielfältigen österreichischen Festspiel-, Festival- und Orchesterlandschaft" reduziert werden können, sondern muss die ambivalenten Identitätsdiskurse nach dem Ende der Habsburgermonarchie in den Blick nehmen.

Türkis und Blau wollten seinerzeit nur "das Gedenkjahr 2018 als gemeinsames Projekt für das ganze Land etablieren". Nun geht es offenbar um mehr: "Wir erachten das Gedenkjahr 2020 als Ausgangspunkt für eine neue, umfassende und auf breiter gesellschaftlicher Basis stehende Gedenkkultur sowie geschichtswissenschaftliche Arbeit in Österreich." Der Text ist nicht nur etwas holprig, es ist auch nicht ohne weiteres klar, was damit gemeint sein könnte. Jedenfalls richtet sich der Blick über das Gedenkjahr 2020 hinaus, wobei allerdings das meiste sehr unbestimmt bleibt – und interessanterweise aufgeteilt ist auf die Abschnitte "Kunst & Kultur" und "Innere Sicherheit", zuzüglich einiger relevanter Positionierungen zum Staat Israel im Abschnitt "Außenpolitik".

Illustration: Felix Grütsch

Neuer Zentralisierungswahn

Klar ist nur: Alle Schülerinnen und Schüler sollen einmal die KZ-Gedenkstätte Mauthausen besuchen können; das Gelände des Außenlagers Gusen soll angekauft werden, bevor die polnische Regierung zuschlägt, und als Gedenkstätte weiterentwickelt werden; das Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (DÖW), das die FPÖ früher regelmäßig als "kryptokommunistische" Organisation denunziert hat, soll gestärkt werden; eine "Forschungs- und Dokumentationsstelle für Antisemitismus, für den religiös motivierten politischen Extremismus (politischer Islam) und für den Rassismus im 21. Jahrhundert" soll geschaffen werden; und die Namensmauer für Opfer der Shoah in Wien soll realisiert werden.

Mit den zwei Letzteren werden türkis-blaue Projekte weitergeführt, wobei Ersteres ursprünglich wohl als eine Art Parodie des DÖW geplant war, sicher jedenfalls als Reservoir für Panikmache und antimuslimische Hetze, Letzteres die FPÖ als Wunschkoalitionspartner der ÖVP mit dem versehen sollte, was im Zusammenhang mit dem Bericht der FPÖ-Historikerkommission unappetitlicherweise von den Freiheitlichen selbst als "Koscher-Stempel" bezeichnet worden ist. Die Namensmauer bietet nur eine weitere Variante der beliebten österreichischen Opfererzählung, vermeidet aber – wie auch schon das Mahnmal auf dem Wiener Judenplatz – ein längst überfälliges Bekenntnis zur allgemeinen Mittäterschaft der Österreicherinnen und Österreicher am Holocaust in Europa.

Schwammiges Bekenntnis

Daneben gibt es ein etwas schwammiges Bekenntnis zur "Stärkung der Erinnerungskultur für Jugendliche inner- und außerhalb der Schulen" und – einigermaßen vollmundig – die Ansage: "Die Bundesregierung stellt sich an die Spitze des Kampfs gegen den Antisemitismus." Schließlich wird noch die "Entwicklung einer Gedenkstrategie mit dem Ziel, die unterschiedlichen Rechtsträger der österreichischen Gedenkstätten, Sammlungen und Museen zusammenzuführen unter dem Dach des Parlaments und die dauerhafte Finanzierung sicherzustellen", in Aussicht gestellt.

Ob von diesem Zentralisierungswahn auch das 2018 eröffnete Haus der Geschichte Österreich (HdGÖ) in der Hofburg betroffen ist, ist schwer zu sagen. Es wird mit keiner Silbe erwähnt. Im ÖVP-FPÖ-Programm kam es noch explizit vor: Die dort angekündigte Evaluierung ist mittlerweile abgeschlossen. Die im recht dünnen, 20-seitigen Bericht geäußerte Empfehlung, "die Ergebnisse der vorliegenden Evaluierung in das künftige Regierungsprogramm aufzunehmen, um so eine rasche Umsetzung einer ständigen Einrichtung zur österreichischen Geschichte zu ermöglichen", ist nicht erhört worden.

Kein Herzensprojekt

Angesichts der Tatsache, dass es nie ein Herzensprojekt der Türkisen und auch nicht der Grünen gewesen ist, kann dies kaum überraschen. Ebenso wenig wie die Conclusio des Berichts: Es wäre sinnvoller gewesen, nicht auf einer viel zu kleinen Fläche mit viel zu wenig Personal in viel zu kurzer Zeit nur eine Eröffnungsausstellung, aber keine Dauerausstellung erarbeiten zu lassen. Und: Man hätte das HdGÖ gleich als rechtlich und administrativ selbstständig konstruieren müssen, nicht als eine Abteilung der Nationalbibliothek. Warum dann jetzt eine administrative Anbindung an das Parlament empfohlen wird, ist allerdings etwas schwer nachzuvollziehen.

Ob ein Neubau am Heldenplatz sinnvoll und überhaupt realistisch ist oder nicht, ob die Hofburg der beste Standort ist oder ein anderer Platz im Zentrum oder an der Peripherie der Stadt – es ist peinlich und unwürdig, dass sich die neue Regierung in diesem weiteren Gedenkjahr nicht explizit zu einer "ständigen Einrichtung zur österreichischen Geschichte" bekennt, die immerhin 2016 mit einer Novelle des Bundesmuseengesetzes ins Leben gerufen wurde und schon erfolgreich arbeitet, deren Zukunft aber vollkommen im Unklaren gelassen wird. Nachhaltig ist es im Übrigen auch nicht.

Skandalöse Geschichtsbilder

Das Hinterherhecheln hinter den jeweils gerade allen kurzfristig bewusst werdenden Jubiläen ist ermüdend und sicher keine gute Strategie. Eine klare Perspektive und Kontinuität für das HdGÖ wären notwendig – wie übrigens auch eine eindeutige Haltung gegenüber dem vom Verteidigungsministerium verantworteten Heeresgeschichtlichen Museum, das mit seinen skandalösen Geschichtsbildern zum Lieblingsausflugsort der internationalen Rechtsextremisten geworden ist. Doch auch darüber schweigt sich das Regierungsabkommen aus.

Unnötig zu erwähnen, dass zu einer längst überfälligen neuen, zeitgemäßen transnationalen Perspektive auf Geschichte und Erinnerungskultur, die der Tatsache Rechnung trägt, dass Österreich ein Einwanderungsland ist, sowieso nichts gesagt wird. Nachdem die Grünen sich für alle Fragen von Migration und Integration in der neuen Regierung für unzuständig erklärt haben und dementsprechend weiter wie bisher das Offensichtliche geleugnet wird, kann auch dies nicht überraschen. Enttäuschend ist es im Jahre 2020, für eine erste Bundesregierung mit grüner Beteiligung, dennoch. (Dirk Rupnow, 12.1.2020)