Gegen den Lauf der Geschichte: Lance Corporal Schofield (George MacKay) versucht in "1917" ein Massaker abzuwenden.

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Für viele war es eine Überraschung, dass bei den Golden Globes am Ende der Brite Sam Mendes mit seinem Kriegsdrama 1917 das Rennen machte. Am wenigsten vermutlich noch für den Regisseur selbst. Spät in die "Award Season" gestartet, hat er den Oscar fest im Blick. Der Film vereint in sich vieles, was preiswürdiges Kino in der Regel auszeichnet: ein großes, humanistisch ausgerichtetes Thema über den Unterschied, den ein Einzelner macht; aufbereitet als filmisches Bravourstück, das den Zuschauer glauben macht, die Erzählung über eine unmögliche Rettungsmission sei in einer einzigen langen Einstellung gedreht – die meisten Schnitte wurden bewusst verschleiert.

Mendes, der zuletzt das in die Jahre gekommene James-Bond-Universum als modernen Blockbuster rundumerneuerte, kehrt mit dieser Arbeit in die Vergangenheit des Ersten Weltkriegs zurück. Allerdings nur als inhaltlicher Ausgangspunkt, denn ästhetisch reiht sich 1917 in eine jüngere Serie immersiver Kinoabenteuer ein. Jener, die ein besonders sinnliches, gleichsam hautnahes Reenactment historischer Erfahrungen versprechen.

Universal Pictures

1917 leistet für den Kriegsfilm ein wenig das, was Alejandro González Iñárritus The Revenant für das Überlebensdrama in der nackten Wildnis war. Es ist ein Parcours durch Schützengräben, unterirdische Tunnel, zerbombte Städte, sogar reißende Flüsse voller Toter – alles Schauplätze, an denen für die zwei britischen Soldaten (George MacKay und Dean-Charles Chapman) im Mittelpunkt des Films unerwartete Gefahren und Grenzerfahrungen warten.

Ihre Aufgabe lautet, eigene Truppen vor einer Falle der Deutschen zu warnen, die sich nur dem Anschein nach zurückgezogen haben. Die Querung der verbrannten Erde der britisch-deutschen Front in Frankreich wird zum Hindernislauf gegen die Zeit. Ein Stationendrama als Illusion einer einzigen vorwärtsdrängenden Bewegung, die meiste Zeit ohne direkten Feindkontakt.

"Mir ging es vor allem darum, Zeit als ein reales Element zu beachten", erläutert Mendes im Interview seinen formalen Zugang. "Als Zuschauer ist man mitgefangen – dabei musste ich vor allem verhindern, dass es zu repetitiv wirkt." Bei den meist zehn, elf Minuten dauernden Takes galt es stets mitzuberücksichtigen, wie man den Blick des Publikums durch diese Landschaft des Todes führt. "Wir wollten die Aufmerksamkeit auf Details lenken, manchmal aber auch den Blick weiter schweifen lassen. Meinem Kameramann Roger Deakins und mir wurde bald klar, dass es mehr um eine erweiterte Beziehung zwischen Kamera, Schauspieler und Raum geht – und weniger um die konventionelle zwischen Kamera und Schauspieler."

Kein politischer Film

Gespenstisch, bisweilen surreal muten dann schon jene frühen Szenen an, wenn die beiden Soldaten die verlassenen Stellungen des Feindes inspizieren, wo noch einzelne Gluthaufen glimmen. Im Niemandsland dazwischen bilden verwesende Körper und Schlamm eine unauflösbare Einheit. Weil man mehr durch das Brennglas der Erfahrung auf das Geschehen blickt, spielen politische Zusammenhänge nur eine untergeordnete Rolle. Die aus dem Actionkino entlehnte, im Grunde ganz simple Frage lautet, ob die Mission gegen die Zeit und die widrigen Umstände gelingen kann. Eine Kritik der militärischen Abläufe, die pervertierte Moral wie beispielsweise in Stanley Kubricks Paths of Glory, findet man hier nicht.

Sam Mendes beim Dreh von "1917".
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Er habe keinen intellektuellen Zugang gesucht, bekräftigt Mendes so auch. 1917 sei im Grunde kein politischer Film, man hätte ihn auch mit zwei Soldaten aus anderen Ländern erzählen können. "Ich glaube nicht, dass der Feind da draußen ist." Der Film strecke sich mehr nach einer menschlichen Wahrheit aus: "Es geht um eine Situation, in der Menschsein auf das Wesentliche reduziert ist. Menschen offenbaren sich in solchen Extremsituationen." Mendes hat den Film seinem Großvater gewidmet, der selbst im Ersten Weltkrieg gekämpft und ihm öfters davon erzählt hat – "keine heroischen Geschichten, sondern solche über die dünne Linie zwischen Leben und Tod".

Als Filmemacher war es ihm wichtig, die richtige Balance zwischen dem Respekt gegenüber den Veteranen und dem zu finden, was ihre Erfahrung bedeutet. Die ethische Widersprüchlichkeit jedes Kriegsfilms, nämlich ob man vom Leid anderer Leute profitiert, wenn man daraus Unterhaltung formt, ist Mendes durchaus bewusst. "Doch alles hat eine Erzählung, jede Person im Raum", ist er überzeugt. "Der Trick besteht darin, das Drama nicht bis zu jenem Punkt zu treiben, an dem es nicht mehr glaubwürdig ist. Selbst wenn man sich im Niemandsland befindet, zwischen all den Leichen, geht es darum, dass man Zeugenschaft ablegt. Und darin liegt ein großer Unterschied."

Die Wahl der Sichtweise

Mendes veranschaulicht die Differenz anhand seiner beiden Soldaten. Schofield (MacKay) hat schon die verlustreiche Schlacht an der Somme überlebt, Blake (Chapman) ist noch weniger abgestumpft, er kann die Augen nicht vor den überall sichtbaren Schrecken des Krieges verschließen.

Dem Publikum, das sich mit den Soldaten durch die Landschaft bewegt, bieten sich damit unterschiedliche Wahrnehmungsweisen an. "Man hat eine Wahl. Ich habe versucht, die Bilder nicht nur für meine eigenen Zwecke einzuspannen", meint Mendes.

Dennoch drängt sich bei 1917 dann doch an manchen Stellen der zwiespältige Eindruck auf, an keinem militärischen, sondern an einem filmischen Überwältigungsmanöver beteiligt zu sein. Die Kamera spielt sich als eigentlicher Protagonist in den Vordergrund. Trotz aller Versuche, den Zuschauer den Wahn des Kriegs erleben zu lassen, bleibt auch das sichtbar, was diese Erfahrung antreibt: eine gewisse inszenatorische Großspurigkeit (Dominik Kamalzadeh, 11.1.2020)