Protestierende forderten am Samstagabend den Rücktritt des obersten geistlichen Führers Ayatollah Ali Khamenei.

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Teheran – Die iranische Staatsspitze gerät wegen des Abschusses einer ukrainischen Passagiermaschine auch im eigenen Land unter Druck. Bis zu 3.000 Menschen demonstrierten am Sonntag laut der Nachrichtenagentur Ilna auf dem Azadi-Platz in Teheran und kritisierten auch die Vertuschung von Fakten durch die iranische Führung. Die Regierung hatte am Vortag nach tagelangem Leugnen eingestanden, die eigenen Revolutionsgarden hätten den Jet mit 176 Menschen an Bord aus Versehen abgeschossen.

"Sie lügen, wenn sie sagen, unser Feind ist Amerika. Unser Feind ist hier", skandierten dutzende Demonstranten am Samstag vor einer Universität in Teheran, wie ein Video auf Twitter zeigte. Sie forderten den Rücktritt des obersten geistlichen Führers Ayatollah Ali Khamenei, der bisher als unangreifbar galt.

Auch aus anderen Städten kursierten Videos mit Demonstrationen gegen die Regierung. Reuters konnte deren Wahrheitsgehalt zunächst nicht überprüfen, aber auch iranische Medien berichteten von den Protesten.

Mit Tränengas gegen Demonstranten

Die Bereitschaftspolizei war mit Tränengas gegen tausende Demonstranten in Teheran vorgegangen. Viele von ihnen riefen "Tod dem Diktator" – in Anspielung auf Khamenei. Der hatte erklärt, die Informationen über den Absturz sollten veröffentlicht werden. Nach Angaben eines Kommandanten der Revolutionsgarden wussten die Behörden seit Mittwoch, dass der Absturz nicht auf technisches oder menschliches Versagen zurückzuführen war, sondern auf einen Angriff.

Auch Oppositionsführer Mehdi Karroubi forderte Khameneis Rücktritt. In einer online veröffentlichten Stellungnahme fragt Karroubi, warum es so lange gedauert hat, bis die Öffentlichkeit über die wahren Ursachen des Absturzes informiert wurde.

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Am Sonntagabend ließ Khamenei selbst wissen, dass "regionale Zustände einen engeren Kontakt zwischen regionalen Ländern" bräuchten. Die, die von der anderen Seite der Welt gekommen seien – gemeint sind wohl die USA –, seien "gegen regionale Kooperationen".

Trump stellt sich hinter Demonstranten

US-Präsident Donald Trump stellte sich am Sonntag öffentlich hinter die Demonstranten im Iran. Auf Twitter schrieb er, an die iransiche Führung gerichtet: "Tötet nicht eure Demonstranten. Tausende sind schon von euch getötet oder eingesperrt worden, und die Welt beobachtet euch. Wichtiger, die USA beobachten euch. Schaltet euer Internet wieder ein und lasst Reporter frei arbeiten. Stoppt das Töten eurer tollen iranischen Leute!"

Der Iran bezeichnete Trumps Äußerungen als absurd. "Stehen Sie an der Seite der Iraner oder gegen sie, wenn Sie ihren Nationalhelden (Soleimani) in einer Terroraktion töten lassen", fragte Außenamtssprecher Abbas Mussawi am Sonntag auf Twitter. Außerdem habe Trump kein Recht, auf Persisch zu twittern, nachdem er jahrelang das iranische Volk mit Drohungen und Sanktionen terrorisiert habe.

Am Sonntag twitterte Trump auch, sein Nationaler Sicherheitsberater gehe davon aus, dass die Sanktionen und Proteste den Iran an den Verhandlungstisch zwingen würden. "Tatsächlich könnte es mir egaler nicht sein, ob sie verhandeln. Es wird völlig ihnen überlassen sein, aber: keine Atomwaffen und 'tötet eure Demonstranten nicht'", schrieb er.

Raketenbeschuss irakischer Militärbasen

Am Sonntag kam es auch zu Angriffen auf eine irakische Militärbasis. Acht Katschuja-Raketen landeten dabei im Inneren des Luftwaffenstützpunkts Al-Balad, teilte das irakische Militär mit. Dabei seien vier irakische Soldaten verletzt worden.

Der Stützpunkt wird auch von US-Soldaten genutzt. Die meisten US-Soldaten hatten den Stützpunkt aber bereits zuvor wegen des Konflikts verlassen. Wer hinter dem Angriff steckt, war zunächst unklar. Der Stützpunkt liegt rund 80 Kilometer nördlich der Hauptstadt Bagdad.

Der Kommandant der iranischen Revolutionsgarden, Hossein Salami, betonte indes, dass die Raketenangriffe vom vergangenen Mittwoch nicht die Tötung von US-Soldaten zum Ziel gehabt hätten.

Untersuchung im Parlament

Das iranische Parlament will die Vorgänge im Zusammenhang mit dem Abschuss des Flugzeugs untersuchen. Die Parlamentsausschüsse für Sicherheit und Außenpolitik sollten sich mit diesem "schwerwiegenden Zwischenfall" befassen und nach Wegen suchen, wie ähnliche Katastrophen in der Zukunft vermieden werden könnten, sagte Parlamentspräsident Ali Larijani am Sonntag. Der Parlamentspräsident äußerte sich nach einer nichtöffentlichen Stellungnahme des Chefs der Revolutionsgarden, Hossein Salami, vor dem Parlament.

Die Islamische Republik hat außerdem acht weitere Visa für kanadische Ermittler ausgestellt. Insgesamt können somit elf Kanadier zur Untersuchung des Abschusses in das Land reisen. Am Samstag sind bereits drei von ihnen in Teheran eingetroffen. Das gab der Außenminister des Landes, Francois-Philippe Champagne, am Sonntag bekannt. Unter den 176 Todesopfern des Crashs befinden sich auch 57 kanadische Staatsbürger.

Irans Präsident Hassan Rohani hat sich in einem Telefongespräch mit seinem ukrainischen Kollegen Wolodymyr Selenskyj am Samstag offiziell bei der Ukraine entschuldigt. Selenskyj fordert weitere Ermittlungen und Kompensationszahlungen.

Kritik auch von regierungstreuen Medien

Die Teheraner Tageszeitungen, deren Berichterstattung im Allgemeinen regierungstreu ist, kritisierten den Abschuss der Boeing in ihren Sonntagsausgaben als unverzeihlichen Fehler. Die Zeitung "Iran" veröffentlichte die Namen sämtlicher Opfer des Unglücks, unter denen zahlreiche in ihrer Heimat und im Ausland lebende Iraner waren. "Entschuldigt euch! Tretet zurück!", forderte das reformorientierte Blatt "Etemad". In einem Kommentar der ebenfalls moderaten Tageszeitung "Jomhuri-ye Eslami" hieß es: "Diejenigen, die die Veröffentlichung der Ursache für den Flugzeugabsturz verzögert und das Vertrauen der Bevölkerung in das Establishment beschädigt haben, sollten entlassen werden oder zurücktreten." Die Zeitung "Jawan", die den Revolutionsgarden nahe steht, entschuldigte sich "zutiefst" für den "schmerzlichen Fehler".

Trump sprach den Demonstranten am Samstagabend seine Solidarität aus. Er sei vom Mut der "schon lange leidenden" Demonstranten inspiriert, twitterte er – sogar auf Farsi. Er warnte die iranische Regierung außerdem davor, weitere Massaker unter friedlichen Demonstranten anzurichten. "Die Welt schaut zu." Er spielte damit auf die blutige Niederschlagung landesweiter Proteste im November an, bei denen laut Amnesty International mehr als 300 Menschen getötet worden waren.

US-Verteidigungsminister Mark Esper versicherte am Sonntag, der US-Präsident sei weiter zu Gesprächen mit der iranischen Führung bereit. "Wir sind bereit, ohne Vorbedingungen über einen neuen Weg, neue Schritte, zu sprechen, die den Iran zu einem normaleren Land machen würden", sagte Esper dem Sender CBS.

Britischer Botschafter für einige Stunden verhaftet

Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell äußerte sich "sehr besorgt" über die vorübergehende Festnahme des britischen Botschafters in Teheran. Auf Twitter forderte Borrell am Sonntag die volle Einhaltung des Wiener Übereinkommens, das die Immunität von Diplomaten regelt. Botschafter Rob Macaire war am Samstagabend für einige Stunden festgenommen worden, nachdem er an einer Protestkundgebung teilgenommen hatte.

Das iranische Außenministerium hat den britischen Botschafter daraufhin am Sonntag wegen dessen Beteiligung an einer Kundgebung für die Opfer der abgeschossenen ukrainischen Passagiermaschine vorgeladen. Macaire wurde dabei mitgeteilt, dass seine Teilnahme an einer "illegalen Kundgebung" gegen die diplomatischen Vorschriften verstoßen habe. Am Sonntag soll es dann Proteste vor der britischen Botschaft in Teheran gegen Macaire gegeben haben. Laut Augenzeugen haben regimetreue Demonstranten bei den Protesten die britische Flagge verbrannt und die Ausweisung des Botschafters gefordert.

EU-Länder wollen an Atomdeal festhalten

Paris, London und Berlin wollen unterdessen weiter an dem Atomdeal festhalten. Das gaben die Chefs der drei Länder per gemeinsamer Stellungnahme am Sonntag bekannt. Der Deal war ja 2015 in Wien ausgehandelt worden, 2018 haben sich die USA unter Trump aber einseitig daraus zurückgezogen und die Sanktionen gegen den Iran wieder eingesetzt (siehe Chronologie unten). Seitdem versuchen die verbliebenen Vertragspartner in der EU den Deal aufrechtzuerhalten. Es fällt ihnen aber schwer, alternative Angebote an den Iran zu machen, die die US-Sanktionen ausgleichen könnten. (APA, red, 12.1.2020)