Das Gebrüll vom Heldenplatz anno 1938 – die Witwe (Mitte: Julia Gräfner) hört es auch noch in der Gegenwart.

Karelly Lamprecht

Auch die steirische Landeshauptstadt Graz hat in Thomas Bernhards Theaterstück Heldenplatz ihr Fett abbekommen. In Graz, so die herzhafte Suada, sei "nur der Stumpfsinn zuhause". In Graz lebten "nur Alte und Dumme", Graz sei "die absolute Unstadt" – und naturgemäß ein "Nazinest". Bernhard hat seine als barocker Kunstgriff zu lesende Übertreibungskunst einigermaßen gerecht auf das ganze Land verteilt.

Schauspielhaus Graz

In Linz geboren – "allein das ist ein fürchterlicher Gedanke". Für alle "auf dem Land" gilt: "gemüts- und geisttötend". Österreich selbst? "Sechseinhalb Millionen Debile und Tobsüchtige." Und auch wenn Thomas Bernhard für eine Nanosekunde ein Parteibuch der SPÖ besaß, so heißt es im zweiten Akt inbrünstig: "Die Sozialisten heute sind im Grunde nichts anderes als katholische Nationalsozialisten." Merke: Das "hat der Professor immer gesagt".

Reden wegklatschen

Solche Erregungszustände gestattet sich die (dramatische) Literatur heute kaum noch, wie generell der Erregungszustand aus der Mode gekommen zu sein scheint und einem moderierenden Tonfall Platz gemacht hat. Bei Bernhard wurde noch unerbittlich aus einem Rohr gefeuert. Ohne Widerrede. Diese nicht enden wollenden (und könnenden) Tiraden und die ihnen eingeschriebene Überzeichnung sind die Essenz seiner Literatur.

Geriet die Uraufführung 1988 am Burgtheater zum größten Theaterskandal der Zweiten Republik, so werden die insistierenden Monologe heute meist weggeklatscht, etwa an der Josefstadt 2010 (mit Michael Degen als Prof. Robert Schuster). Scheu aber zeigt Regisseur Franz-Xaver Mayr, der Heldenplatz nun erstmals am Schauspielhaus Graz herausgebracht hat und sich mit einer Ladung sachdienlicher Sekundärliteratur wappnet.

Lektüre zum Faktencheck

Er hat die Figur des im Stück nur nebensächlichen Prof. Landauer zur Vermittlerrolle erhoben. Landauer (hier eine Frau: Sarah Sophia Meyer) gibt vor Beginn des Stücks zwecks Faktencheck Lektüreempfehlungen aus. Man könne im Bernhard-Handbuch von Martin Huber und Manfred Mittermayer nachlesen oder bei der Sprachwissenschafterin Fatima Naqvi oder beim Wissenschaftsautor und STANDARD-Redakteur Klaus Taschwer (Hochburg des Antisemitismus. Der Niedergang der Universität Wien im 20. Jahrhundert); man solle den Film Waldheims Walzer von Ruth Beckermann anschauen oder nach H.-C. Strache googeln, wie er als 19-Jähriger, als er noch unter Neonazis verkehrte, bei der Heldenplatz-Premiere vom Rang herunterbuhte.

Ein Theaterstück vorab zu legitimieren – und sei dieses historisch noch so aufgeladen – ist entbehrlich. Es schwächt den Text und nimmt das Publikum nicht für voll. Zum Glück fegt Florian Köhler in der monströsen Rolle der Frau Zittel gleich in der ersten Szene dieses einleitende Erklärstück mit Bravour weg. Im taubengrauen Etuikleid und mit weißen Handschuhen, deren Spitzen grazil in die Luft tippen, legt sie im Beisein des stillen Hausmädchens Herta (Raphael Muff) in ihrem berühmten Bügel-Monolog den Grundstein für alles, was danach in der jüdischen Professorenfamilie abgehandelt wird.

Zu viele Nazis

Die Familie Schuster trifft sich in der großbürgerlichen Wohnung nahe dem Heldenplatz, aus der sich das Oberhaupt, Prof. Josef Schuster, zwei Tage zuvor aus dem Fenster in den Tod gestürzt hat. Zu viele Nazis in der Stadt! Oder wie sein Bruder Robert (Julia Franz Richter) sagen wird: "[E]s gibt jetzt mehr Nazis in Wien als achtunddreißig."

Mayrs Inszenierung akzentuiert einiges neu, bleibt zugleich aber auch zu zurückhaltend. Er führt einen Chor ein, der Subtext liefert und der beizeiten mit den Insignien der Beschimpfung (Klerus, Politik, Engstirnigkeit der Bevölkerung) sowie dem Transparent "In den Waldheimen und auf den Haidern" einzieht. Der Chor agiert allerdings viel zu verhalten.

Zaghaftes Gesamtbild

Die geschlechterkonträre Besetzung ist der entschiedenste Schritt dieser Inszenierung, und sie hat durchaus Wirkung. Sie bricht das festgeschriebene Dominanzverhältnis der Reden (Geschlecht, Alter) auf und ermöglicht es, beispielsweise mit Julia Franz Richter als Prof. Robert, die Anliegen einer jungen Frau und eines alten Mannes zusammenzudenken.

Zudem trägt Franz-Xaver Mayr mit weißer Bühne und schrägen Kostümen (Michela Flück) dem Kunstcharakter des Stücks Rechnung und schafft geradezu Nähe zu den bösen Kunstmärchen E. T. A. Hoffmanns. Für eine Teufelsaustreibung war das Gesamtbild aber zu zaghaft. (Margarete Affenzeller, 13.1.2020)