Ali Khamenei, Irans oberster Repräsentant, gerät unter Druck. Ob dieser ausreicht für eine Veränderung in der Islamischen Republik ist fraglich.

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Als würde der Horror, seine Lieben bei einem Flugzeugabsturz zu verlieren, allein nicht reichen, sind nun die Angehörigen und Freunde der Toten des Ukraine-International-Airlines-Flugs PS752 damit konfrontiert, dass diese einer Gewalttat zum Opfer gefallen sind. Dass der Abschuss der Passagiermaschine Mittwochfrüh in Teheran keine Absicht, sondern ein Versehen war, entspricht wohl der Wahrheit. Die Empörung im Iran selbst und in der internationalen Gemeinschaft verringert das kaum, aus gutem Grund.

Den iranischen Überlegenheitsfantasien, der Angeberei mit Kriegsentschlossenheit steht die – systemische – Unfähigkeit gegenüber, an das Wohl und Wehe von Zivilisten, eigenen und fremden, zu denken. Dass der Flughafen Teheran trotz des möglichen Schlagabtauschs in der Nähe nicht gesperrt wurde, wirft ein grelles Schlaglicht auf die iranische Realität: Die Revolutionsgarden (IRGC) agieren, als ob es die Republik Iran, islamisch oder nicht, mit ihren Bedürfnissen auf eine Interaktion mit der restlichen Welt nicht gäbe. Die IRGC gerieren sich wie ein Staat im Staat – und das sind sie ja gewissermaßen auch.

Dass es die iranischen Behörden, obwohl sie längst im Eck standen, noch mit Vertuschung und Schuldzuweisungen versucht haben, macht die Sache noch ärger. Da kommt zur Ignoranz und zum Versagen eines kaputten Systems der Zynismus. Und genau dieses Gemisch erzeugt die Wut, die sich am Samstag, nachdem die ganze Wahrheit heraußen war, auf den iranischen Straßen entlud.

Von außen ist das Ausmaß solcher Proteste immer schwer zu quantifizieren. Nicht nur das Herunterspielen vonseiten des Regimes, auch die Verbreitung der einschlägigen Szenen via soziale Medien folgt oft einem politischen Spin. Aber so viel ist sicher: Wenn Iraner und Iranerinnen nach der äußerst brutalen Niederschlagung der letzten Protestwelle schon wieder auf die Straße gehen, dann zeigt das das Ausmaß einer enormen Frustration, gegen die das Regime immer weniger Mittel in der Tasche hat außer nackte Gewalt.

Die Illusion einer nationalen Einheit, die das Regime nach der extralegalen Tötung von General Ghassem Soleimani durch die USA herstellen konnte, ist verpufft. Auch diese Inszenierung war durch die Massenpanik beim Begräbnis Soleimanis in Kerman, bei der dutzende Menschen starben, ja bereits blutbefleckt. Und nun wird sie durch die Opfer der abgeschossenen Boeing vollends zerstört.

Es sieht so aus, als würde das Regime versuchen, ein kollektives Dampfablassen zu steuern: Die iranischen Medien wandten sich am Sonntag scharf gegen "die Verantwortlichen" für den Abschuss – meinten damit jedoch andere als die Demonstranten. Jene in der Kommandokette, die die falschen Entscheidungen getroffen haben, werden wohl bestraft werden. Aber die Straße zeigt direkt auf das System und dessen obersten Repräsentanten, Ali Khamenei.

Die Kommentare von US-Politikern, die nun die Iraner einmal mehr zum "regime change" auffordern, werden es Khamenei und den Seinen erleichtern, auch diese Proteste in den Kontext ihrer Schlacht mit dem "großen Satan" zu setzen. Noch viel mehr Menschen im Iran, als wir auf den Straßen sehen, haben dieses offizielle Narrativ wohl ganz einfach satt. Aber ob es bereits genügend sind, um das Steuer in der Islamischen Republik in ihrem 5. Jahrzehnt herumzureißen, ist fraglich.

(Gudrun Harrer, 13.1.2020)