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Autor Yukio Mishima versucht, ganz Japan zur spirituellen Umkehr zu bewegen: eine Aufnahme kurz vor dem Selbstmord des Dichters im November 1970.

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Es fällt gar nicht leicht zu sagen, was den Klosterschüler Mizoguchi an Japans berühmtem Goldenen Pavillon so erhaben dünkt. In drei makellosen Stufen erhebt sich das filigrane Gebäude am Rande eines Teichs, weithin leuchtendes Juwel in der alten Kaiserstadt Kyoto.

Manchmal schleicht sich Mizoguchi spätnachts auf leisen Sohlen in den "Kinkaku" hinein (so der Name des Pavillons), als ob man die Leere des Bauwerks sinnlich spüren könnte. Ein Zustand innerer Leere ist ausdrückliches Ziel des Tempelschülers.

Mizoguchi ist notorischer Stotterer. Obendrein empfindet er sich als arm und unansehnlich. Allein der Anblick des Goldenen Pavillons reizt ihn schon zum Widerspruch. Während er vor dem benachbarten Zenkloster die Kieselwege fegt, sinkt rund um ihn Japans Erhabenheit in Trümmer. Der Tenno, Kaiser Hirohito, ist kein Gott mehr. Zwischen Zen-Schülern auf ihren Holzsandalen sieht man besoffene US-Soldaten herumstolpern. Ein besonders enthemmter Besatzer fordert den gaffenden Mizoguchi dazu auf, seine Begleiterin, eine ordinäre Geisha, in den Bauch zu treten. Er tut, wie ihm geheißen.

Nationales Unglück

Als Yukio Mishima (1925–1970) seinen epochalen Roman "Der Goldene Pavillon" niederschrieb, zählte er kaum mehr als 30 Jahre. Er blieb der Schilderung des nationalen Unglücksfalles vollkommen verpflichtet – und bog ihn dennoch nach Gutdünken zurecht. Ein 22-jähriger Universitätsschüler fackelt am 2. Juli 1950 Japans ganzen Stolz, das Symbol perfekter, von Menschen erzielter Ausgewogenheit, ab.

Tatsächlich gleicht Mishimas Romanfigur dem realen Brandleger aufs Haar. Auch er ist ein junger Mann mit hemmender Sprachstörung. Demgegenüber macht sich bei ihm eine schier überschnappende Intelligenz bemerkbar. Mizoguchis Reflexionen bilden das Rückgrat von Mishimas bedeutendstem Roman. Ein an seiner Adoleszenz leidender Bursche empfängt, ohne recht zu verstehen, was die Kunde für ihn bedeutet, Nietzsches Hiobsbotschaft vom Ableben Gottes.

Was in den Augen der Welt als schön erscheint, als ebenso unnahbar wie himmelhoch erhaben, droht den armen Mizogushi einzusaugen. Die einfachsten Übungen in Zweisamkeit missraten ihm gründlich. Bei seinen Rendezvous kommt ihm der Gedanke an den Pavillon immer dann in die Quere, wenn er seinen Mann zu stehen versucht. Ein klumpfüßiger Kollege träufelt ihm obendrein das Gift des Nihilismus ins Ohr. Die Vorstellung unbefleckter Reinheit, eine Art Mitgift der in Europa beheimateten Aufklärung, koinzidiert mit buddhistischen Erleuchtungsideen.

Der Schreckensruf des gesamten Buches dürfte auch Mishima als Leitfaden zu seinem bizarren Leben gedient haben: "Erkenntnis kann niemals die Welt verändern!" Indem er meinte, mitten in Japan im Treibsand der Moderne zu versinken, versuchte er sich am eigenen Samurai-Zopf aus dem Schlamassel herauszuziehen.

Japans Chamäleon

Mishima wurde Romancier, Librettist und Journalist. Obendrein dilettierte er als Model, Schauspieler und Filmemacher. Seinen schmächtigen Körper unterwarf er einem erbarmungslosen Drill. Als Ästhet glich er einer Mischung aus Stefan George und Gabriele D’ Annunzio. Mit ausdrücklicher Genehmigung der Regierung stolzierte er in selbstgeschneiderten Uniformen herum und unterhielt eine kleine Privatarmee. Als Verheirateter besuchte er demonstrativ Schwulenbars.

Inakzeptabel dünkte ihn des Tennos Verzicht auf den Gottesstatus. Sich selbst wähnte er im Besitz von Nippons Kulturessenz. Am 25. November 1970 stürmte er mit ein paar Getreuen eine Kaserne der Selbstverteidigungskräfte. Er brüllte etwas von nationaler Wiederauferstehung herum und beging schließlich umständlich Seppuku: Tod durch rituelles Bauchaufschlitzen. Ein Performancekünstler eigenen Rechts ging skandalös stark ab.

Hollywood-Drehbuchschreiber Paul Schrader überblendet in seinem betörend schönen Film "Mishima" (1985) den Skandal von Mishimas Suizid mit Mizoguchis unsühnbarer Tat. Der Moment höchster Ekstase fällt mit der ultimativen Geste der Auslöschung in eins zusammen. Thomas Mann, Mishimas erklärter Lieblingsschriftsteller, hätte darob wohl leise skeptisch den Kopf geschüttelt. Mishimas meisterhafte Prosa erscheint nun Band für Band auf Deutsch bei Kein & Aber. (Ronald Pohl, 14.1.2020)